Die Deutsche Bibliothek kommuniziert via High-speed-Netz

ATM im LAN: Kein Buch mit sieben Siegeln

04.07.1997

Eines der wichtigsten Argumente, das häufig gegen den Einsatz von ATM in unternehmensweiten Netzen angeführt wird, wischte Thomas Seidel, Netzwerkspezialist bei der Deutschen Bibliothek, Frankfurt, auf dem diesjährigen ATM-User-Workshop in Darmstadt mit einer Bemerkung beiseite: "Der Preisunterschied zwischen ATM-25 und Ethernet war nicht sehr groß", schildert er auf dem von dem European Marketing Awareness Committee (EMAC) veranstalteten Treffen das Ergebnis einer Ausschreibung, die die Vernetzung von 500 PCs mit Windows NT, 40 Multimedia-Workstations und 15 zentralen Servern vorsah. "Wenn Sie große Stückzahlen bestellen, bekommen Sie interessante Konditionen."

Dabei setzte die Ausschreibung der Bibliothek keine durchgehende ATM-Vernetzung voraus. Im Anforderungskatalog schrieb die vom Bund getragene Institution lediglich ATM-Geschwindigkeit im Backbone-Bereich vor. Der Tertiärbereich, so die Vorgabe, solle mit Ethernet angeschlossen werden. Den Anbietern stand es jedoch frei, das ATM-Protokoll bis zum Desktop fortzuführen. Erst als Angebote eingingen, die eine ATM-Implementierung bis zum Endgerät mit 25 Mbit/s vorschlagen, die nicht wesentlich mehr kosten sollten als Ethernet-Umgebungen, entschlossen sich die Verantwortlichen in der Bankenstadt zu einer durchgehenden ATM-Installation.

Seidel hatte, wie gesagt, das Glück, das interne Netz für die Deutsche Bibliothek auf der grünen Wiese planen zu können, denn das Gebäude der Archivbibliothek wurde komplett neu errichtet. Dabei wurde entschieden, auch in Sachen technische Infrastruktur neueste Verfahren zum Zuge kommen zu lassen, um der Kundschaft über moderne Informationsdienste die gewünschte Literatur auf neuartigen Wegen und mit aktuellen Medien präsentieren zu können.

Kunden-Service auch im Internet

So werden im Hause in der Endausbaustufe etwa 120 Benutzer-PCs aufgestellt, mit denen Interessenten Online-Recherchen durchführen können. Außerdem können Besucher der Präsenz- bibliothek an rund 40 Hochleistungsrechnern im neuen Multimedia-Bereitstellungssystem stöbern. Beim Trend zu aktuellen Dienstleistungsformen machen die Bibliothekare auch nicht vor dem Internet halt. Im Web, zu dem das Haus eine 2-Mbit/s-Verbindung unterhält, wurde ein Service eingerichtet, über den Interessenten Recherchen starten oder auf die katalogisierten Bestände der Partnerbibliotheken im In- und Ausland zugreifen können http://www.ddb.de .

Die Basis der gesamten Kommunikationsinfrastruktur bildet ein ATM-Netzwerk. In Frankfurt ließen die Netzexperten dazu eine Tertiärverkabelung verlegen, die auch einer drastischen Erhöhung des elektronischen Datenverkehrs gewachsen sein dürfte. Das achtadrige geschirmte Kupferkabel (Shielded Twisted Pair = STP) ist für Frequenzen von maximal 300 Megahertz ausgelegt.

Insgesamt hängen an dieser Verkabelung 1200 Netzzugangsdosen, so daß theoretisch die gleiche Anzahl Endgeräte anschließbar ist. "Mit der Verkabelung, die die Anforderungen von einer Kategorie-5-Vernetzung erheblich übertrifft, haben wir das bestmögliche Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielt", beschreibt der Netzexperte die Installation. Im Backbone-Bereich sahen die Frankfurter zu jedem Tertiärverteiler zwei Stränge Lichtwellenleiter mit jeweils zwölf Fasern vor, so daß auch an diesen Stellen die Tore für einen weiteren Anstieg des Datenverkehrs offen sind.

Innerhalb des Frankfurter Hauses gibt es nur noch eine ATM-fremde Insel: Auf einem Tandem-Rechner mit dem Betriebssystem NSK ist die Datenbank abgelegt, in der Informationen über die katalogisierten Publikationen sind. Dieser Rechner, der praktisch die Hauptapplikation für die Bibliothek enthält, benötigt Ethernet.

Des weiteren sind die vorhandenen Unix-Rechner an ein Ethernet angebunden. Beide Lösungen sind jedoch langfristig nicht haltbar: "Die Unix-Rechner werden in jedem Fall an ATM angeschlossen, beim Tandem-Rechner müssen wir abwarten, ob der Hersteller die für die S-Serie verfügbaren ATM-Karten auch für den eingesetzten Rechner anbietet", wagt Seidel einen Ausblick. Die NT-Server, die Standardapplikationen bereitstellen, sind bereits mit 155 Mbit/s in das ATM-Netz integriert.

Im gesamten Netz des Frankfurter Literaturarchivs laufen drei unterschiedliche Protokolle. Zukunftsträchtig ist vor allem das Internet Protocol (IP). Die Novell-Lösung Internetwork Packet Exchange (IPX) dagegen "ist die alte Welt, die wird sicher irgendwann verschwinden", prognostiziert Seidel. Darüber hinaus betreibt die Deutsche Bibliothek auf einem Router noch Decnet, das sie zur Unterstützung der X.25-Kommunikation mit den Partner-Bibliotheken benötigt. Auch diese Protokolle sind Auslaufmodelle, denn der Umstieg auf IP ist bereits beschlossene Sache.

In dieser Umgebung hat die DV-Abteilung der Bibliothek fünf emulierte LANs installiert, die sowohl IP- wie auch IPX-Verkehr umfassen. Für den Betrieb dieser Endgerätegruppen nutzt die technische Abteilung des Hauses die LAN-Emulation 1.0 wegen der Verfügbarkeit. Zu Beginn des Projekts, als die Masterplatten für die PCs Anfang dieses Jahres mit den notwendigen Treibern bestückt wurden, war nur diese Spezifikation vom ATM-Forum hinreichend definiert.

MPOA wird interessiert, aber kritisch beäugt

Deshalb gibt es keine ELAN übergreifende IP-Subnetze, so daß die Kommunikation zwischen den Segmenten über einen zentralen Router erfolgen muß. Dabei hatte das Projektteam den Vorteil, daß der IBM-Server Multiprotocol Switched Services (MSS) neben LANE- auch Router-Funktionen übernimmt, so daß kein dediziertes Gerät angeschafft werden mußte. Obwohl das Netzwerk derzeit mit der LAN-Emulation läuft und darüber hinaus um weitere Endgerä- te ausgebaut werden soll, schielt Seidel auf die Spezifikation Multiprotocol over ATM (MPOA), das jüngste Werk des ATM-Forums.

"Natürlich werden wir auch künftig wachsen und dabei ein Auge auf MPOA haben. Wenn das Verfahren verfügbar ist, werden wir sicherlich eine Testinstallation fahren und prüfen, was es uns an Vorteilen bringt", so der Frankfurter Experte.

Man müsse jedoch abwägen, ob sich der Aufwand lohne, denn ein kompletter Umstieg auf MPOA könnte zeitaufwendig werden. So vermutet Seidel etwa, daß sich die Treiber auf den Festplatten der Endgeräte nicht über remote Zugriffsverfahren austauschen lassen. Der Arbeitseinsatz, um bei mehr als 500 PCs die Software MPOA-konform aufzurüsten, wäre dann erheblich.

Alles in allem ist die weitere Vorgehensweise bei der Bibliothek klar definiert: Die durchgehende ATM-Vernetzung ist geplant. Langfristig möchte man Ethernet ersetzen und nach Möglichkeit auch die Standorte in Berlin und Leipzig über ATM-Strecken anbinden. Auf den Endgeräten sollen einmal native ATM-Applikationen eingesetzt werden. Allerdings sind derartige Lösungen derzeit noch nicht erhältlich. Dennoch bekräftigt Seidel den Plan: "Ziel ist es, überall auf ATM zu setzen.