Kräftiger Gegenwind für Microsoft im Internet

AOL kauft Netscape mit Unterstützung von Sun

25.11.1998
MÜNCHEN (CW) - Für 4,2 Milliarden Dollar kauft America Online Inc. (AOL) den Internet-Pionier Netscape Communications Corp. Sun Microsystems soll als Subkontraktor Netscapes E-Commerce-Software nutzen und vermarkten.

Seit einem Bericht des "Wall Street Journal" vom Mittwoch vergangener Woche über den künftigen Einsatz des Netscape-Browsers "Communicator" in der AOL-Software überschlagen sich die Ereignisse. Inzwischen herrscht Klarheit: Der Deal ist perfekt, Netscape-Aktionäre erhalten je Aktie 0,45 AOL-Anteile. Der Handel soll im Frühjahr 1999 abgeschlossen sein. Mit der Browser-Software von Netscape und dem Besitz von zwei der vier populärsten Einstiegsseiten ins Internet wird AOL zur bedeutendsten Web-Adresse.

Der Preis liegt deutlich über der Marktkapitalisierung von Netscape, die im Vorfeld der Übernahme bei rund 3,7 Milliarden Dollar lag. Damit fährt die Internet-Company über ihren Börsenwert hinaus einen Bonus von mehreren hundert Millionen Dollar ein. Gerüchte um eine Übernahme von Netscape kursieren schon lange - und immer galten AOL und Sun als Kandidaten (siehe CW 7/98, Seite 1). Der Online-Dienst interessierte sich vor allem für das Internet-Portal Netcenter. Es zählt mit fünf Millionen Nutzern und über 120 Millionen Hits pro Tag zu den meistbesuchten Web-Seiten überhaupt.

Sun Microsystems interessierte sich vorrangig für die E-Commerce- und Server-Produkte von Netscape. Letztere werden im Suitespot-Paket als Bundle angeboten. Als Gegenleistung erhält AOL mehr als 350 Millionen Dollar, die Sun in Form von Lizenz- und Marketing-Gebühren sowie für Produktanzeigen an den Online-Dienst zahlen wird.

Sun verpflichtet sich außerdem, in den nächsten drei Jahren größere Geschäfte mit einem zuvor festgelegten Mindestumsatz mit AOL abzuschließen. Im Gegenzug erklärte sich AOL bereit, bis zum Jahr 2002 Systeme und Services im Wert von 500 Millionen Dollar von Sun zu beziehen.

Zusammen mit der eigenen Kundenbasis von 14 Millionen Abonnenten verändert AOL die Wettbewerbssituation im Internet dramatisch. Der Online-Dienst wird zu einem gigantischen Werbeträger und idealen Vertriebskanal für E-Commerce-Anbieter. Die Allianz richtet sich nach Meinung von Branchenkennern klar gegen Microsoft, das auch den Internet-Markt beherrschen will.

Netscape ist durch die Abkehr vom Browser-Geschäft und die Hinwendung zum Portal-Business eine ideale Ergänzung für das AOL-Kerngeschäft. Einzig die Unternehmenssoftware für Internet-Server und E-Commerce-Anwendungen paßt nicht ins Kerngeschäft des Online-Riesen. Hier kommt Sun ins Spiel. Die Java-Erfinder sind traditionell stark auf dem Unix-Markt vertreten und könnten durch die Lizenznahme von Netscape-Technologie Microsoft im Back-Office-Geschäft Paroli bieten.

Doch der Handel dürfte sich auch auf das laufende Kartellverfahren des amerikanischen Justizministeriums gegen Microsoft auswirken. Der Softwareriese hat in einer ersten Reaktion davon gesprochen, daß die Allianz zeige, daß Microsoft keineswegs die Computerindustrie nach Belieben beherrsche.

Hat Microsoft Netscape ruiniert?

Das Justizministerium scheint anderer Ansicht zu sein. In der Tat ist eine Netscape-Übernahme eher ein Beleg für den Vorwurf, daß Microsoft den unliebsamen Konkurrenten mit aller Macht aus dem Markt drängen wollte. Net- scape war nach dem Wegfall seines Browser-Geschäfts allein nicht mehr überlebensfähig.

Auch in Europa werden die Nachbeben des Geschäfts spürbar sein. Der Bertelsmann-Konzern dürfte nicht gerade erbaut sein, daß sein Partner AOL den eigenen Bemühungen um ein Web-Portal in Zusammenarbeit mit Lycos das Wasser abgräbt. New-Media-Chef Bernd Schiphorst hält sich aber noch bedeckt und bezeichnet die Übernahme als eine rein amerikanische Angelegenheit.

Während die meisten Analysten in ersten Stellungnahmen den Zusammenschluß positiv bewerten, hat ein Netscape-Aktionär bereits Klage eingereicht, da der Kaufpreis viel zu niedrig angesetzt sei.

Die Netscape-Mitarbeiter ihrerseits äußern sich nach einem Maulkorberlaß von CEO Jim Barksdale nicht zu dem Deal. Sie dürften jedenfalls in den Händen von AOL und Sun gut aufgehoben sein - so sie denn gebraucht werden. Der Standort Mountain View in Kalifornien soll nach Bekundungen von AOL auf jeden Fall erhalten bleiben. Barksdale wird voraussichtlich einen Sitz im AOL-Vorstand bekommen und den Markennamen Netscape als eigenständige Einheit führen.

Einer jedenfalls hat sich geschickt aus der Affäre gezogen: Netscapes Mitbegründer und Chefingenieur Marc Andreessen genehmigte sich kürzlich eine zweimonatige Auszeit und will erst im neuen Jahr zurückkehren. Offenbar kann er den Ausverkauf seines Lebenswerks nicht mit ansehen.