Chip-Abhängigkeit bereitet Europas DV-Anbietern Sorge

Anwendungsspezifische Schaltungen gewinnen an Bedeutung

13.11.1992

Nur wenige Themen werden in der europäischen und deutschen Industrie so hartnäckig diskutiert wie die Frage, ob eine eigenständige, von Japan und den USA unabhängige Chip-Industrie überhaupt nötig sei. Auch der Deutsche Bundestag informiert sich in regelmäßigen Abständen zu diesem Thema - ohne sich allerdings ein klares Bild machen zu können. Zu unterschiedlich sind die Auffassungen der DV-Anbieter, Anwender, Gewerkschaften und Forschungseinrichtungen. Trotzdem, so zeigte eine Anhörung vor wenigen Wochen, ist ein Minimalkonsens erkennbar: Nur wenn die Entwicklung anwendungsspezifischer Chips, sogenannter ASICs, beherrscht wird, kann sich die mittelständisch geprägte deutsche Industrie vom Maschinenbau bis zur Elektrotechnik künftig einigermaßen in Sicherheit wiegen (siehe auch CW Nr. 44 vom 30. Oktober 1992, Seite 7).

Deutsche Bank AG

Frankfurt

Es steht außer Zweifel, daß die deutsche und europäische Industrie aufgrund der Querschnittsfunktion der Chip-Technologie in diesem Sektor vertreten sein muß. Es ist behauptet worden, daß angesichts der dominanten Stellung der japanischen Industrie in der Speichertechnologie und der amerikanischen Industrie in der Mikroprozessortechnik eine Aufholjagd der Europäer nicht mehr sinnvoll ist. Es wäre somit günstiger, sich ganz auf die Produktion von ASICs zu konzentrieren, um in diesem wachsenden Markt noch Marktanteile gewinnen zu können.

Bei dieser Argumentation ist aber folgendes zu berücksichtigen:

1. Akzeptiert die europäische Industrie die Dominanz der Japaner im Markt für Speicher-Chips, so muß sie mit einem Importanteil von 80 Prozent leben. Dieser Anteil ist höher als derjenige, der zu unserer Energieabhängigkeit gegenüber den OPEC-Staaten führte.

2. Verzichten die Europäer auf den Versuch, Anschluß an das Know-how der Speicher-Chip-Technologie zu gewinnen, so verlieren sie auch die damit verbundene Infrastruktur sowie die Industrien zur Herstellung von Reinstchemikalien und den Bau von Fertigungsgeräten.

3. Die Versorgung der europäischen Märkte durch die japanischen Chip-Anbieter in der beschriebenen Größenordnung

kann zur Folge haben, daß die europäischen Abnehmer nur geringen direkten Einfluß auf die Preispolitik für Chips und indirekt somit auch auf die Absatzpreise der eigenen Endprodukte ausüben können. Diese Abhängigkeit kann zu Verzerrungen des Marktes und darüber hinaus zu Wettbewerbsbenachteiligungen der Europäer führen.

Siemens AG

München

Generell muß man sagen, daß zumindest in der Vergangenheit der Innovationsdruck zur Nutzung neuester Bauelemente der Mikroelektronik geringer war als in Japan und den USA. Ein Indikator dafür ist der IC-Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung, der in den USA und Japan deutlich höher liegt als in Europa. Abhängigkeit ist ein kritischer Faktor. ASICs neuester Technologie (Komplexität, Packungsdichte, Geschwindigkeit, Stromverbrauch) werden zunehmend überlebenswichtig. Abhängigkeiten sind damit extrem gefährlich.

Räumliche Nähe zu einem ASIC-Lieferanten aus dem gleichen Kulturkreis ist mit Sicherheit ein Wettbewerbsvorteil, wenn dessen Leistungsfähigkeit dem internationalen Stand entspricht.

IBM Deutschland GmbH

Böblingen

Japanische Hersteller beherrschen monopolartig wesentliche Grundlagentechnologien in der mikroelektronischen "Nahrungskette", wie elektronische Materialien und die Fertigungstechnik für entsprechende Komponenten. Mit wachsendem Anteil der Mikroelektronik in der Anwendung wächst auch die Gefahr der Abhängigkeit.

Europa muß hier die modernen Fertigungstechniken beherrschen. Die Herstellung von Speicher-Chips ist dazu der erste und entscheidende Schritt. Obwohl derzeit weltweit Überkapazitäten in der Speicherfertigung bestehen, benötigt Deutschland eigene Produktionsstätten für Speicher-Chips, weil die entscheidende Fertigungserfahrung nur in der aktiven Herstellung erworben werden kann und Voraussetzung dafür ist, die nächste Chip-Generation oder ASICs erfolgreich zu fertigen.

Die Produktion von ASICs oder DRAMs ist nicht alternativ zu verstehen. DRAMs sind a) der technologische Wegbereiter für ASICs und b) die Grundlast in der Herstellung von ASICs, um in der Massenproduktion die Leistungsfähigkeit und Stabilität der Fertigung zu gewährleisten.

In der Mikroelektronik sind die Stufen der "Nahrungskette", die von japanischen Herstellern monopolartig beherrscht werden, wieder in die technologische Eigenständigkeit zu führen: Materialien, Geräte, Herstellverfahren, Speicher, Logik. Als zweckmäßig und erreichbar bietet sich dafür die Herstellung von 64-Mbit-DRAMs an, die gleichzeitig den Weg für hochintegrierte ASICs ebnen und ihre Herstellung ermöglichen.

Deutsche Bundespost

Telekom

Bonn

Eine große Abhängigkeit (von ausländischen Informations- und Kommunikations-Anbietern, d. Red.) besteht im Bereich spezieller Halbleiter-Bauelemente, deren Hauptlieferanten in den USA und Japan sitzen. Ähnliches gilt für bestimmte Kommunikationssysteme im Satellitenbereich sowie für die in Zukunft sehr wichtigen großen flachen Bildschirme auf LCD-Basis.

Eine eigene Technologie zur Produktion von Speicher-Chips in Europa zur Verfügung zu haben ist wünschenswert, um international unabhängig zu sein. Aus heutiger Sicht läßt sich dies in ausreichendem Maße jedoch wegen der enormen Kosten und des starken Wettbewerbs nicht realisieren.

Der Aufbau einer Produktionsstätte für Chips der Frontline (64 Mbit) erfordert Investitionen in Milliardenhöhe. Diesen Ausgaben steht ein recht unsicherer und hart umkämpfter Markt gegenüber und die Tatsache, daß internationale Kooperationen betrieben werden, zum Beispiel das in jüngster Zeit angekündigte gemeinsame Vorhaben von IBM, Siemens und Toshiba.

Die stärkere Konzentration auf die Entwicklung von ASICs erscheint aus Sicht der Telekom sehr wichtig. Die Chips stellen in Zukunft entscheidende Grundbausteine für den Bau fast aller Investitions- und Konsumgüter dar.

Dabei sind zwei Determinanten für den wirtschaftlichen Erfolg ausschlaggebend: hohe Stückzahlen und hohe Leistungsfähigkeit.

Trifft eine dieser Bedingungen nicht zu, kann die Verwendung von Logikbausteinen sinnvoller als die Entwicklung von ASICs sein. Insgesamt steigt der Anteil kundenspezifischer Chips stärker als der von Standard-ICs.

Entschließt man sich zu einer deutschen Konzentration auf ASICs, so sollte man bewußt auch auf den amerikanischen und japanischen Markt gehen, um gegen Marktverschiebungen gesichert zu sein.

Daimler Benz AG

Stuttgart

Die Kenntnisse der Anwenderindustrie über mögliche Abhängigkeiten sind sehr unterschiedlich entwickelt. Während die Großunternehmen, zum Beispiel in der Autoindustrie, die Gefahr künftiger Abhängigkeiten klar sehen, ist diese Erkenntnis besonders bei vielen mittelständischen Unternehmen noch erstaunlich gering entwickelt. Im Gegensatz zum Kenntnisstand über Technologien in Japan, Korea und Taiwan ist das Bewußtsein für die Problematik der Mikroelektronik in Europa erstaunlich weit zurückgeblieben. Schutz des Systemwissens gibt es nur durch vertrauensvolle, enge Zusammenarbeit mit einer nicht manipulierbaren, unabhängigen Mikroelektronik-Industrie.

Im Bereich der Mikroelektronik ist eine Konzentration auf Kernfähigkeiten notwendig. Besondere Bedeutung kommt dabei den anwendungsspezifischen Schaltungen (ASICs) zu. Durch europäische und internationale Kooperationen muß die Unabhängigkeit gegenüber außeuropäischen Zulieferern gesichert werden. Neue Wege werden in Zukunft die Aufteilung der Entwicklungskosten zwischen Anwendern und Herstellern ermöglichen.

Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA)

Frankfurt

Die Japaner haben heute nicht nur den technologischen Vorsprung, sondern auch den größten Markt, so daß in wesentlichen Gebieten der Informations- und Kommunikationstechnik ein Gleichziehen kaum mehr möglich erscheint, selbst wenn der Staat mit massiven Subventionen eingreifen würde. Diese Beurteilung gilt keineswegs für, alle Gebiete der IuK-Techniken. So ist die marktbeherrschende Stellung Japans etwa im Bereich der ASIC-Herstellung längst nicht so ausgeprägt.

Die Marktverhältnisse sind völlig anders und auch die geographische Nähe von Hersteller und Anwender spielt hier eine viel wichtigere Rolle. Deshalb scheint es beispielsweise auf diesem Sektor eine echte Chance zu geben, zu halbwegs wettbewerbsfähigen IuK-Produkten zu kommen, wenn eine massive Förderung der Forschung und Entwicklung, aber auch der Anwendung und damit der Marktbildung beschlossen würde (... ).

Aus Sicht des Maschinenbaus ist die Fertigung von Speicher-Chips im Bereich von 64 MB oder größer in Europa nicht zwingend erforderlich, da die Absatzmärkte für derartig große Chips in Deutschland oder Europa sehr begrenzt sind.

Für diese Chips liegen die Märkte heute im wesentlichen in Japan und Amerika, so daß eine europäische Fertigung sich nicht auf einen potenten heimischen Markt abstützen kann. Damit wird sich auf diesem Sektor ein Preiskampf auch bei fairen Bedingungen nicht gewinnen lassen.

Die stärkere Miniaturisierung und die Integration von Systemen auf Chips bringt naturgemäß die Notwendigkeit zur engeren Zusammenarbeit mit den Halbleiter- beziehungsweise ASIC-Herstellern. Dies beinhaltet natürlich auch die Gefahr eines stärkeren Abflusses von System-Know-how an diese Anbieter, insbesondere die Abgabe von innovativen Produktideen. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Anwenderindustrie und deutschen beziehungsweise europäischen ASIC-Halbleiter-Herstellern wünschenswert. Hier spielt auch der Preis nicht die ausschlaggebende Rolle (... ). Deutschen ASIC-Herstellern (wird) auch bei erheblicher Konkurrenz durch Japan eine echte Chance eingeräumt.

Institut für Weltwirtschaft

Kiel

Von den Befürwortern einer aktiven Industriepolitik zugunsten der Halbleit-Produktion wird als (... ) Argument vorgebracht, eine Abhängigkeit deutscher Anwender von japanischen Chip-Lieferanten sei auch deshalb bedenklich, weil mit den in Auftrag gegebenen Chips zumindest teilweise offenbart werden müsse, welche Konstruktionsprinzipien dem Endprodukt zugrunde liegen. Da japanische Chip-Hersteller oftmals auch in nachgelagerten Märkten tätig sind, komme beispielsweise das Offenlegen der Konstruktionsprinzipien einer elektronisch gesteuerten Werkzeugmaschine gegenüber dem Chip-Lieferanten einer Darlegung gegenüber der eigenen Konkurrenz gleich.

Diese Befürchtungen mögen in Einzelfällen berechtigt sein, doch gegen eine Verallgemeinerung spricht folgendes Erstens sind produktspezifische Informationen des Anwenders weder bei Speicher-Chips noch bei Mikroprozessoren relevant, sondern nur bei ASICs. Diese Logik-Bauteile werden aber oftmals nicht mit modernen, sondern mit technologisch älteren Produktionsverfahren hergestellt.

Während der Stand der Technik bei den Speicher-Chips heute durch die 4M-Technologie markiert wird, kommen bei einfacheren ASICs überwiegend Herstellungsverfahren zum Einsatz, die der 256K-Technologie entsprechen.

Diese Technologie, die um zwei volle Generationen hinter der neuesten zurückliegt, steht vielen, auch kleineren und keineswegs nur japanischen Anbietern offen.

Zweitens haben sich mittlerweile mehrere kleinere Firmen und Institute darauf spezialisiert, als Chip-Designer die von den Anwendern benötigten ASICs zu entwickeln. Sie treten damit als Mittler zwischen Chip-Herstellern und Anwendern auf, und der Benutzer muß sein produktspezifisches Wissen nur gegenüber dem Chip-Designer, nicht jedoch gegenüber dem Hersteller offenbaren. Auch wer komplexe ASICs benötigt, hat also Möglichkeiten, sein produktspezifisches Wissen vor der Imitation durch große Mikroelektronikkonzerne zu schützen.

Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)

Düsseldorf

Halbleiter-Speicher beziehungsweise integrierte Schaltkreise sind aufgrund ihres außerordentlich hohen technologischen Fortschrittstempos Innovationstreiber für alle von ihnen abhängige Endprodukt-Bereiche.

Diese reichen vom Maschinenbau über die Elektrotechnik, die feinmechanische und optische Industrie, den Fahrzeugbau bis hin zur datenverarbeitenden Industrie und den anderen Zweigen des Informations- und Kommunikationssektors. Sie stellen den Großteil des hiesigen exportstarken Investitionsgüter-Sektors dar.

Trotz der derzeitigen wirtschaftlichen Stärke vieler der genannten Investitionsgüter-Industrien vor allem in Deutschland ist festzuhalten, daß diese Stärke mit einer wenig ausgeprägten Elektroniknutzung einhergeht. Das ist vermutlich der schwachen Mikroelektronik-Industrie in Europa geschuldet.

Da die Abhängigkeit dieser Sektoren in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird, kann sich die unübersehbare Schwäche für die genannten Anwenderindustrien in Europa fatal auswirken.

Darüber hinaus wird in einem für die Zukunft wichtiger werdenden Bereich, nämlich bei den anwendungsspezifischen Chips, den ASICs, die Koppelung zwischen Herstellungs- und Anwendungsprozessen immer intensiver; hier wird das Systemwissen aus der Anwendung zunehmend auf die Chips übertragen, was bedeutet, daß der Anwender für den Halbleiter-Entwurf sein Systemwissen offenbaren muß.

Damit geraten die industriellen Anwender von ASICs in eine prekäre Situation: Sie werden von der Lieferfähigkeit und -bereitschaft der ASIC-Produzenten in wachsendem Maße abhängig. Die Unternehmen sind vergleichsweise risikoscheu: Der Aufbau einer ausreichend großen Chip-Produktion wurde auch dann nicht konsequent in Angriff genommen, als Siemens und Philips den technologischen Rückstand im Halbleiter-Bereich mit staatlicher Hilfe wettgemacht hatten.

So ist Europa heute nicht in der Lage, seinen Bedarf an strategisch wichtigen aktiven Bauelementen (vor allem integrierte Schaltungen) selbst zu decken. Etwa 30 Prozent des Inlandsbedarfs muß durch Importe (vor allem digitale Speicher) gedeckt werden.

IG Metall Frankfurt

Insbesondere im Bereich der (...) Speicher-Chips sind keinerlei Indizien für eine mögliche Beeinträchtigung der Versorgung erkennbar. Ganz im Gegenteil, hier herrscht weltweit ein erbitterter Preiswettbewerb zwischen den fahrenden Anbietern. Ungleich problematischer ist die Situation im Bereich der Mikroprozessoren, in dem aufgrund der hochgradigen Monopolisierung zum Leidwesen vieler Anwender außerordentlich gefährliche, ja in manchen Fällen sogar existenzbedrohende Abhängigkeiten zu verzeichnen sind.

Weitaus am problematischsten sind die Abhängigkeiten im Bereich der Betriebssysteme, Software-Tools, Anwenderschnittstellen, Datenbanken, Standardapplikationen und der Netzwerksysteme. Alle diese Technologiesektoren sind strategisch mindestens ähnlich bedeutsam wie die Beherrschung der Halbleiter-Technologie. Alle diese Bereiche werden von US-amerikanischen Firmen kontrolliert.