Anwendungsprogramme lassen Schnittstellen vermissen Mittelstand gibt Grosskonzernen eine harte EDI-Nuss zu knacken

24.11.1995

CW-Bericht, Peter Gruber

BREMEN - Electronic Data Interchange (EDI) kommt in Deutschland zwar voran, boomt aber nicht. Dieses Fazit laesst sich nach dem vom Deutschen Institut fuer Normung und der Deutschen EDI-Gesellschaft in Bremen veranstalteten Kongress "EDI '95" ziehen. Der Grund: Grosskonzerne haben noch Probleme, mittelstaendische Zulieferer von EDI zu ueberzeugen. Als Mittel zur Neuordnung von Geschaeftsprozessen wird das EDI-Verfahren unterdessen jedoch anerkannt.

"EDI floriert." Kurz und praegnant brachte Bettina Kuhnen-Mueller den Status des elektronischen Austausches von Handelsdaten auf den Punkt. Die Expertin, bis vor kurzem bei der Karstadt AG im Projektbereich Warenwirtschaft fuer EDI-Anwendungen verantwortlich, zog in Bremen damit eine positive Bilanz, allerdings aus Sicht des Konzerns. Die Essener, seit jeher Vorreiter in der deutschen EDI- Szene, haben laut Kuhnen-Mueller bisher 120 Lieferanten auf diese Weise angebunden.

Gemessen an den 10000 Warenlieferanten der Karstadt AG erscheint die Quote auf den ersten Blick gering. Unter den 120 befinden sich jedoch die groessten Handelspartner der Kaufhauskette, die einen beachtlichen Teil des Bestell- und Lieferwesens ausmachen. Immerhin wickelt das Unternehmen bereits 80 Prozent des Geschaeftssektors Phono ueber eine Clearing-Stelle des Anbieters Inovis elektronisch ab, im Bereich der Stapel- und Textilware sind es zehn Prozent.

Mit Hilfe des direkten Bestellsystems werden zum Beispiel Markenartikel von Levis, Wrangler, Schiesser etc. automatisch nachdisponiert. Die Ware landet somit schneller wieder in den Verkaufsregalen. Jeans-Fabrikant Wrangler verbuchte eigenen Angaben zufolge dadurch in den Karstadt-Haeusern ein Umsatzplus von 20 Prozent.

Der Fall Karstadt ist jedoch, wie der Kongress in der Hansestadt zeigte, untypisch und typisch zugleich. Untypisch, weil der Konzern weit mehr EDI-Partner aufweist als andere Companies.

Typisch, weil Karstadt wie alle anderen Grossunternehmen in Deutschland Schwierigkeiten hat, mittelstaendische Zulieferer von den EDI-Vorteilen zu ueberzeugen. Der Mittelstand stellt nach wie vor eine kritische Masse dar, weshalb in Bremen der Grundtenor vorherrschte: EDI macht zwar Fortschritte, boomt aber nicht.

Untermauert wird dieser Eindruck durch die Ergebnisse einer Studie der Universitaet Hamburg. Professor Dieter Pressmar, Direktor des Instituts fuer Wirtschaftsinformatik, praesentierte auf dem Kongress die Auswertung von 1200 befragten Unternehmen in Deutschland. Eines der Resultate: Je groesser die Firma, desto verbreiteter ist die Anwendung von EDI. Die Analyse ergab bei der Groessenordnung von 55 bis 99 Beschaeftigten einen Verbreitungsgrad von 18,7 Prozent, der in Betrieben mit mehr als 500 Mitarbeitern auf 43 Prozent steigt. Spitzenreiter in der Nutzung ist der Handel mit 28,8 Prozent, gefolgt von Dienstleistern (24,2) und dem produzierenden Gewerbe (20,7).

Zu denken gibt, dass immerhin ein Fuenftel der Befragten mit dem Begriff EDI nichts anzufangen wusste. "Wir muessen weiter Aufklaerungsarbeit leisten", richtete Pressmar deshalb einen Appell an das Auditorium. Ferner monierte der Professor die geringe EDI- Partnerzahl sowie das bescheidene Nachrichtenvolumen in Deutschland. Er kritisierte ausserdem die unzureichende Ausschoepfung des in EDI steckenden Rationalisierungspotentials.

Stichwort Rationalisierung: In der Weser-Stadt wurde eines deutlich - EDI spielt zunehmend eine tragende Rolle bei der Neuordnung von Geschaeftsprozessen. Stellvertretend fuer zahlreiche auf dem Kongress vorgestellte Szenarien sei hier das Werk Bremen der Mercedes-Benz AG genannt. Dort fungiert EDI, wie Rudolf Stark, Direktor und Werksleiter ausfuehrte, als Handlungskomponente zur Strategieumsetzung.

Die werksinterne Ablauforganisation im administrativen Bereich basiert laut Stark mittlerweile auf EDI. Alle produktionsbezogenen Prozesse werden gemaess den Empfehlungen des Verbands der Automobilhersteller (VDA) durch EDI unterstuetzt. Dabei sind 85 Prozent der Produktivlieferanten elektronisch in die Anwendungssysteme des Werks integriert. Auswirkungen hat EDI dabei auf Vorlaufzeiten, Materialumlauf, Fertigungstiefe, Systemlieferanten, den weltweiten Entwicklungsverbund sowie Genauigkeit und Schnelligkeit von Informationen.

Vom EDI-Einsatz verspricht sich Mercedes eine Verbesserung der Wettbewerbsfaehigkeit sowie Servicequalitaet, mehr Flexibilitaet, Kosteneinsparungen, eine Optimierung der Ablauforganisation und Erhoehung der Informationssicherheit. Dies sind, wie in Bremen immer wieder betont wurde, unverzichtbare Faktoren fuer Unternehmen hierzulande, will der Wirtschaftsstandort Deutschland international konkurrenzfaehig bleiben.

30 Prozent ueber den Preisen des Weltmarkts liegen zum Beispiel die Kosten fuer Schiffe aus deutschen Werften laut Christian Warsch, IT-Manager der in die Schlagzeilen geratenen Bremer Vulkan Verbund AG. Dieser Nachteil sei unter anderem nur durch das Rationalisierungspotential von EDI zu kompensieren. Vulcan will EDI deshalb ab 1996 im Pflichtenheft fuer alle Zulieferer bindend vorschreiben.

Warsch, der massgeblich daran beteiligt war, den Kongress EDI '95 in die Stadt an der Weser zu holen, weiss um die Notwendigkeit, EDI kleinen und mittelstaendischen Firmen schmackhaft zu machen. Zusammen mit der Handelskammer konnte der Experte den Wirtschaftssenat ueberzeugen, ein Foerderprogramm fuer den Bremer Raum aufzulegen. Das mit 1,5 Millionen Mark ausgestattete Projekt wurde auf dem Kongress gestartet und soll der genannten Klientel helfen, EDI-Anwendungen zu realisieren. Pro Betrieb ist eine Finanzspritze von maximal 50000 Mark vorgesehen.

Waehrend die Vulkan AG kuenftig Druck auf ihre Lieferanten ausueben will, EDI in die Tat umzusetzen, sind die Verantwortlichen bei Karstadt von dieser Methode nicht ueberzeugt. Die Essener versuchen die Lieferanten durch Informationsveranstaltungen auf EDI-Kurs zu bringen.

"Die Zulieferer muessen selbst von der Idee hinter EDI beseelt sein", glaubt Kuhnen-Mueller, die bis Ende 1996 mit insgesamt 250 EDI-Partnern rechnet. Durch ein neues Warenwirtschaftssystem, das naechstes Jahr installiert wird, kommen der EDI-Expertin zufolge allein 30 Unternehmen aus der Lebensmittelbranche hinzu. Dann hofft Kuhnen-Muellers Nachfolger, Andreas Weng, auch die Rechnung als EDI-Nachricht einfuehren zu koennen. Bislang sind nur die Messages Bestellung und Liefer-Avis realisiert.

Die Diskussion um eben diese EDI-Messages und deren Subsets - das sind Untermengen der Nachrichtentypen, die von Branche zu Branche unterschiedlich interpretiert werden - spielte in Bremen nur eine sehr untergeordnete Rolle. "Die Subsets ufern nicht mehr aus", beschreibt Hinrich Schlieper, EDI-Beauftragter der IBM, den Status quo.

Aus Sicht des Anwenders muss laut Warsch die Applikation im Vordergrund stehen und nicht die Diskussion um Spezifikationen. Um noch mehr EDI-Partner zu gewinnen, waere auch Karstadt bereit, weitere Subsets zu fahren, vorausgesetzt, sie folgen der Syntax des internationalen ISO-Standards Edifact. In der Essener Karstadt-Zentrale werden derzeit die EDI-Spezifikationen Sedas und Eancom der Konsumgueterindustrie gepflegt.

Insgesamt dominieren laut Studie der Uni Hamburg noch proprietaere Datenaustauschformate (vgl. Tabelle) das EDI-Geschehen und sind damit dem branchenuebergreifenden Austausch von Geschaeftsdaten hinderlich. Allerdings nimmt der Einsatz Edifact-basierter Loesungen zu. Gefordert sind deshalb Hersteller von Konvertern wie Actis, Dakosy, Harbinger, Informix, Inovis, ISD, Lion, SNI, Tangram, die in Bremen ausstellten. Nicht von der Partie waren unter anderem GLI, MLC, Profile und Seeburger.

Auf dem Kongress war jedoch leise Kritik an den Konvertern zu vernehmen. "Es wird viel verkauft, was nicht Edifact ist", bemaengelt Spezialist Schlieper. "Schoene Oberflaeche, aber nichts dahinter", war das Statement eines weiteren Insiders, der nicht zitiert werden wollte. Diplomatischer faellt das Urteil von Thomas Schmoll, Geschaeftsfuehrer der Stratedi GmbH, Schwelm, eines neutralen Beratungsunternehmens in Sachen EDI aus. "Die Schnittstelle zur Applikation ist in den meisten Konvertern nicht realisiert", weiss Schmoll aus seiner Testerfahrung zu berichten. Gestuetzt wird die Aussage Schmolls durch Professor Pressmar. Seine Studie entlarvte fehlende Import- und Export-Interfaces in der Anwendungssoftware als das wesentliche Hindernis bei der Verbreitung von EDI.

Die Last der Implementierung und Pflege wuerden Anbieter wie Xtend oder Lion den Anwendern gern abnehmen. Unter dem Stichwort EDI- Outsourcing locken sie mit Komplettloesungen, die von der Beratung bis zum Netzdienst alles beinhalten. Carrier-Services koennen beide Firmen anbieten, weil hinter Xtend Thyssen sowie hinter Lion Vebacom als Muetter stehen. Damit tritt das Duo auch in den Wettbewerb zu den bisherigen Netzdienstleistern GEIS, IBM, Info AG, IBM und Telekom.

Ist schon der Gedanke des Outsourcings in puncto EDI noch relativ neu, muss der in Bremen vorgestellte Ansatz des "Open-EDI" noch unter der Rubrik Zukunftsmusik gebucht werden. Dabei handelt es sich um ein im Januar 1995 verabschiedetes Referenzmodell der ISO. Im Gegensatz zur bisherigen Standardisierung sollen jedoch nicht Geschaeftsformulare, sondern ganze Transaktionsprozesse zwischen Unternehmen und Branchen modelliert werden. Der Vorteil: EDI- Systeme koennten sich automatisch auf vorhandene Standards verstaendigen. Als ideale Plattform wird bereits das Internet gehandelt, das in Bremen von den Teilnehmern wegen mangelhafter Sicherheitskriterien jedoch zurueckhaltend bewertet wurde.