Die Probleme sind echt, die Modelle virtuell

Anwender suchen erfolgreich Hilfe in der IT-Forschung

09.04.1999
MÜNCHEN (ua) - Das gibt es auch in Deutschland: Unternehmen lassen sich von Forschungsinstituten helfen. Der Nahverkehr will mittels IT seine Strecken preisgünstig planen, E-Plus Leitungskapazität anmieten. Die deutsche Miederwarenindustrie plant neue BH-Größen und -Formen und Miele eine neue Produktionsstraße.

Der 1. August dieses Jahres soll der Starttermin für den Verkehrsverbund Saar sein. Zur Planung des Linienverkehrs und der Fahrscheinpreise setzt die Verkehrsverbundgesellschaft Saar GmbH die Software "Wabplan" des Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM), Kaiserslautern, ein.

Ihre Bezeichnung erhält die Software durch die Oberfläche des Programms: Das Saarland ist dort in ungefähr 500 Waben geliedert. Eine Wabe entspricht einer Tarifzone. Der planende Sachbearbeiter sieht auf dem gerasterten Untergrund die einzelnen Routen und kann diese mit der Maus verlängern, verkürzen sowie umlegen. "Er spielt mit dem Programm und sieht sich die Auswirkungen an", beschreibt Holger Hennes, Projektmitarbeiter beim ITWM. So ändert sich mit der Linienführung auch die Preisstruktur. "Berechnungen, die zuvor bis zu einem Jahr dauerten, sind nun in 15 Minuten erhältlich", schwärmt Hennes.

Die Simulation des Verkehrsverbundes hat ihre Wurzeln in einer Diplomarbeit der ITWM-Mitarbeiterin Anita Schöbel. Sie beschäftigte sich mit der Simulation und Optimierung der Linien für die Regionalbus Saar-Westpfalz GmbH (RSW), Saarbrücken, bei der sie ein Praktikum absolvierte. Das Unternehmen setzt seit rund vier Jahren elektronische Fahrscheindrucker in seinen Bussen ein. "Diese Drucker des Typs AEG EDR 1003 geben relationsbezogene Fahrausweise aus", erläutert Alfred Stuppi, Abteilungsleiter Absatz bei der RSW. Der Fahrgast tippt im Bus seinen Abfahrtsort und sein Ziel ein. Ein Druckermodul registriert die Fahrausweisgattung wie Einzel- oder Mehrfachfahrschein sowie die bezahlte Strecke. Am Ende seiner Schicht entnimmt der Busfahrer dieses Modul und bringt es zu einer Auslesestation. Dort werden die Daten an die Zentrale übertragen. Diese Form der Datenermittlung erspart dem Unternehmen herkömmliche Fahrgastzählungen. Die Statistiken dienen darüber hinaus seit zwei Jahren als Grundlage der Streckenplanung. Das ITWM-Programm weiß, welche Strecken von wie vielen Passagieren frequentiert werden und welche Summen die RSW dabei einnimmt. Allerdings simuliert das Busunternehmen im Gegensatz zur Verkehrsverbundgesellschaft nicht selbst. Der Auftrag, das Netz neu zu planen und Preise zu kalkulieren, geht bislang noch einmal pro Jahr an das Institut.

Routing für E-Plus

E-Plus steht vor einem ähnlichen Problem wie die Verkehrsplaner: Das Telekommunikationsunternehmen möchte eine Grundversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten und trotzdem Gewinn machen. Dabei hilft dem Unternehmen die Software "Dimensioning Survivable Cellular Phone Network" (Discnet) des Konrad-Zuse-Zentrums, Berlin.

Das Programm berechnet das Routing des Kommunikationsverkehrs im Normal- und im Fehlerfall, wenn Verbindungen - in der Fachsprache "Kanten" - oder Knoten ausfallen.

Zunächst wird das logische Kommunikationsnetz geplant. Grundlage dafür ist der streckenbezogene Bedarf an Festnetz- und Richtfunkkapazitäten, etwa für die Verbindung München - Berlin. Die Programmoberfläche ist eine Deutschlandkarte. Der logische Bedarf verteilt sich auf die tatsächlich gemieteten Knoten und Kanten. Die Verbindung München-Berlin wird gesplittet. Bietet nur die Telekom eine entsprechende Leitung an, zeigt die Oberfläche auch nur eine Verbindungslinie. Die Angebotspreise sind mit den jeweiligen Strecken verknüpft.

E-Plus kann außerdem festlegen, wie sich eine Mindestverfügbarkeit garantieren läßt und wie hoch sie sein soll. Auf diese Weise könnten Zwischenfälle vermieden werden, wie sie kürzlich bei der österreichischen Telekom auftraten, als bei Bauarbeiten zwei Kabel durchtrennt wurden. Die Alpenrepublik war in Großteilen vom Telefonverkehr abgeschnitten. Das Programm Discnet berechnet nicht nur die notwendigen Routen für die Sicherung, sondern auch den Mindestpreis, den E-Plus für einen solchen Notfall zahlen muß.

Erste Erfahrungen mit dem System sammelte E-Plus bereits vor vier Jahren. Es basiert auf Methoden der gemischt ganzzahligen Programmierung. Grundlage ist ein mathematisches Modell, das Bedingungen beschreibt.

Miederwäsche nach Maß

Um Modelle ganz anderer Art handelt es sich bei dem Projekt "Miederbekleidung". Die Forschungseinrichtung Hohensteiner Institute, Bönnigheim, vermißt derzeit im Auftrag der Forschungsgemeinschaft Bekleidungsindustrie insgesamt 2000 Frauen und Mädchen, um die Paßform für Büstenhalter und Miederkonstruktionen neu definieren zu können. Maß nimmt nicht der Schneider, sondern der 3D-Scanner "Vitus" beziehungsweise die zugehörige Vermessungs- und Visualisierungssoftware. Das System ist in Köln aufgebaut, wo sich bis Ende April noch 1000 weibliche Wesen zwischen 14 und 70 Jahren elektronisch abtasten lassen werden.

Der eingesetzte Scanner, ein Gemeinschaftsprodukt der Tecmath GmbH & Co., Kaiserslautern, und der Vitronic GmbH, Wiesbaden, ist mit bis zu 16 Laser- und CCD-Kameras bestückt, die gegenüberliegend in einem Halbrund angeordnet die Vorder- und Rückansicht der Damen aufnehmen. Ein Scan-Vorgang dauert zwischen acht und 20 Sekunden.

Die Daten werden zu einem Modell umgerechnet, das aus bis zu 16 Millionen Dreiecken und Punkten besteht. Die grüne Punktwolke ist ein virtuelles dreidimensionales Ebenbild, das seinem Vorbild bis aufs Haar gleicht. Abweichungen liegen im Bereich von ein bis zwei Millimetern.

Eigentlich ist der Bodyscanner jedoch ein Nebenprodukt. Das erste Tecmath-Computer-Mensch-Modell entstand für die deutsche Automobilindustrie und diente der Gestaltung von Fahrzeuginnenräumen. Die Entwicklung begann bereits 1988. Inzwischen setzen BMW, Audi und Ford solche Softwareprodukte ein.

Die Forschung im Hause Tecmath befaßt sich ebenfalls mit Meßsystemen für Körpermaße und Formen sowie für Haltungen und Bewegungen, um Personen in Arbeitsumgebungen zu simulieren. Die Menschenmodelle werden etwa zur Simulation von Produktionsstraßen benötigt. Doch inzwischen, so führt Hartmut Speyer, Ergonomic Systems Manager bei Tecmath, aus, haben die Bodyscanner ein Eigenleben entwickelt. Die Bekleidungsindustrie interessiert sich dafür.

So verkauft der Mainzer Laden "Mplus" Maßanzüge, die mit Hilfe des Programms "Contour", einem Vorgänger des Vitus-Systems, gefertigt werden. Grundlage hier sind drei Schattenrißfotos, die im Laden geschossen werden. Aus der Vorder- und Seitenansicht und einer Sitzhaltung errechnet die Anwendung ein dreidimensionales Modell. Die Informationen gehen an den Herrenkonfektionär Bernhardt aus Biedenkopf. In drei bis vier Wochen hat der Kunde einen Maßanzug ab rund 800 Mark. Der Nachteil des aus Fotos berechneten Systems: Frauen sind dafür zu kompliziert gebaut. Für weibliche Formen wird ein 3D-Scanner benötigt.

In einem nächsten Schritt sollen die 3D-Modelle dazu genutzt werden, den Herstellungsprozeß zu automatisieren. In den Hohensteiner Instituten steht ein Prototyp der Maßkleidungsfabrik. Dabei werden die berechneten Körpermaße direkt an ein Gradiersystem übertragen. Diese Maschine übernimmt das "Rädeln", die Übertragung des Schnittmusters auf den Stoff, einschließlich der Saum- und Nahtzugaben. Die Daten gehen weiter an den Cutter für den Einzelschnitt. Lediglich das Nähen und Bügeln muß noch händisch erfolgen.

Anwendungsmöglichkeiten für die 3D-Punktwolken gibt es noch viele. So dürften etwa Versandhäuser Interesse an den 3D-Maßen ihrer Kunden haben. Immerhin gehen 70 bis 80 Prozent der Retouren darauf zurück, daß die Kleidung nicht paßt. Unter Umständen könnte das grüne Abbild die Kleidung bereits im Internet anprobieren. Die virtuellen Clones sind lediglich 15 MB groß.

Ob der Bodyscanner ein Verkaufsschlager wird, steht dennoch in den Sternen. Er ist den meisten potentiellen Kunden schlichtweg zu teuer. Das Vitus-System kommt auf 200000 bis 400000 Mark, das Contour-System auf rund 40000 Mark.

Außerdem zeigt der Scanner noch Mängel beim Erfassen von bekleideten Personen. Um die Kleidung aufzunehmen, müssen Videokameras installiert sein. In der Wiedergabe wird zunächst der grüne Zwilling errechnet, der dann farbecht regelrecht angezogen wird. Dunkle Kleidung widersetzt sich aber dem punktgenauen Scannen, so daß der Modellaufbau Lücken aufweist.

Virtuelle Kabeltrommeln

Nicht um körperliche Details, sondern um die Simulation von Bewegungsabläufen geht es bei den Menschenmodellen des Fachbereichs Produktionstechnik der Fachhochschule Köln. Sie entwickelte ein Virtual- Reality-Programmiersystem, mit dem sich Produktionsprozesse verbessern lassen. Die Bewegungselemente aus dem Arbeitsablauf sind bestimmt durch ergonomische und zeitliche Faktoren, wie sie die Deutsche MTM-Vereinigung definiert.

Das Planungs- und -optimierungsinstrument ist enstanden in Kooperation mit der Miele & Cie GmbH & Co., Euskirchen. Dabei erhielt der Hersteller ein animiertes Modell für die Fertigung von Kabeltrommeln in Staubsaugern.

Wie die neue Produktionsstraße aussieht, kann der Planer am Bildschirm simulieren. Den abgebildeten Maschinen und Menschenmodelle, die mit Hilfe von VRML- und Java-Scripten animiert werden, liegen Datenbankobjekte zugrunde. Zu deren Verwaltung benutzt die Fachhochschule das Datenbank-Management-System "Oracle 8". Die Software-Objekte besitzen Eigenschaften, zum Beispiel Werkstoffeigenschaften. Die Objektattribute mußten nicht programmiert werden. Große Teile stammen aus CAD-Programmen. Die Steuerungsmodule, die das Verhalten der Objekte bestimmen, sind in "SQL Plus" geschrieben.

Der Vorteil der animierten Objekte liegt darin, daß der Planer die Auswirkungen einer Änderung sofort sehen kann. Zum Beispiel fällt gleich auf, wenn der Roboter sich asynchron zum menschlichen Arbeitsrhythmus verhält oder wenn Menschen ergonomisch falsch eingerichtete Arbeitsplätze haben. Zugleich liefert das System die geänderten Kenndaten zum Produktionsprozeß wie die Stückzahlen pro Schicht oder den Anteil unproduktiver Zeit.

Die Umsetzung des Modells scheitert derzeit noch an Bedenken des Betriebsrats. Seine Vorsicht ist in den MTM-Zeitvorgaben und durch die ersichtliche Produktivitätssteigerung begründet. Die ergonomischen Verbesserungen an der neuen Produktionsstätte, die sich ebenfalls mit dem Tool modellieren lassen, würden allerdings begrüßt, äußert sich Wilfried Fink, Fertigungsleiter bei Miele. Doch bereits zum jetzigen Zeitpunkt habe Miele von dem Forschungsprojekt profitiert: "Es sind gute Ideen dabei herausgekommen.