Benutzerprogrammierung und Selbstgestaltung in der Kommunalverwaltung:

Anwender stehen auf eigenen Entwicklungsfüßen

23.06.1989

Gestaltungsflexiblere Software ermögliche Fachexperten, aus bestehenden Programmen neue, individuelle Leistungen zu generieren. Im Rahmen der Programme "Humanisierung des Arbeitslebens" soll das Projekt "Entwicklung von DV-Anwendungssystemen durch den Sachbearbeiter ausgewählte Kommunalverwaltungen in die Lage versetzen, die Computerunterstützung ihrer Arbeit selbst zu gestalten.

Die Autoren sind Mitglieder der Forschungsgruppe Verwaltungsautomation an der Gesamthochschule Kassel, Mönchebergstr 17, 3500 Kassel

Die Informatisierung von Arbeitsprozessen setzt das Zusammenwirken von zwei Expertengruppen voraus, deren Beziehung normalerweise durch wechselseitige Abhängigkeit und wechselseitige Inkompetenz geprägt ist: Fachexperten und DV-Experten. Eine wichtige und zugleich schwierige Aufgabe in Informatisierungsprozessen ist es, bestehende Spannungen zu lösen und damit die Zusammenarbeit produktiv zu gestalten.

Man geht dabei auf mehreren Wegen vor, und es zeichnen sich spezifische Bedingungen und Grenzen der Lösungsansätze ab:

- Verbesserung der Methoden des Software-Engineering (geeignet insbesondere für große Systeme und zeitaufwendige Entwicklungsprozesse; die Grenzen liegen in kurzfristigen Informationsanforderungen).

- Einsatz von Standardanwendungssoftware (geeignet insbesondere für Grundfunktionen wie Buchhaltung, Lohn- und Gehaltsanhebungen; Grenzen liegen in individuellen beziehungsweise organisationsspezifischen Informationsanforderungen).

- Verlagerung der Anwendungsentwicklung zu den Fachexperten (geeignet insbesondere für die Umsetzung individueller und kurzfristiger Informationsanforderungen; Grenzen liegen in der Größe und Komplexität von Aufgaben).

Während über die beiden ersten Lösungsansätze seit langem vielfältige Erfahrungen vorliegen, rückt der dritte nur zögernd und unter Vorbehalten in den Vordergrund. Mit Schlagworten wie "Individuelle Datenverarbeitung ", "Benutzerprogrammierung", "programmerless programming" etc. sollen - im Unterschied zur herkömmlichen Anwendungsprogrammierung - die Möglichkeiten für Fachexperten bezeichnet werden, aus gegebenen Leistungen eines Softwaresystems neue Leistungen zu generieren.

Voraussetzung dafür ist die Verfügbarkeit von Software, die für Eingriffe der Fach-Experten offen ist, die einfacher und mächtiger ist als herkömmliche höhere Programmiersprachen (teilweise aber auch beschränkter in der Anwendungsbreite). Man spricht etwa von Very High Level Languages, die eine Verschiebung in der Programmiertätigkeit von der Entwicklung prozeduraler Algorithmen zur analytischen Durchdringung und Beschreibung des Ausgangsproblems eröffnen. Gestaltungsflexible Software gibt es heute für viele Funktionsbereiche von Industriebetrieben und öffentlichen Verwaltungen. Obwohl also technische Bedingungen und Potentiale für Anwendungsentwicklungen durch Fachexperten vorhanden sind, mangelt es doch immer noch an Konzepten für einen humanen und wirtschaftlichen Einsatz.

Hier setzt unser Projekt an: Sachbearbeiter in ausgewählten Kommunalverwaltungen sollen - so weit als möglich - die Computerunterstützung ihrer Arbeit selbst gestalten, unterstützt von einer wissenschaftlichen Beratung, die nach Beendigung des Projekts durch einen Beratungsservice der Verwaltungen selbst oder des zuständigen Gebietsrechenzentrums weitergeführt werden soll.

Entwicklung kommunaler DV-Anwendungen durch Sachbearbeiter schließt ein, sie zu befähigen, ihre Arbeitsprobleme und prozesse selbst zu analysieren, die angemessenen technischen Unterstützungsmittel so weit als möglich selbst auszuwählen und zu gestalten sowie die zu erwartenden Auswirkungen ihrer Entwicklungsanstrengungen auf sie selbst und auf vor und nachgelagerte Arbeiten abzuschätzen.

Das Projekt hat Modellcharakter; die Ergebnisse sollen - bei vergleichbaren Bedingungen - übertragbar sein, und auch bei weniger gleichartigen Bedingungen soll aus ihnen gelernt werden können. Aus den Projekterfahrungen soll das für andere Verwaltungen Wissenswerte und Nutzbare in Gestalt von Verfahrensvorschlägen, Konzepten, Methoden, Checklisten etc. verallgemeinert und in Form eines Handbuchs verdichtet werden.

Selbstgestaltung ermöglicht eine produktive Fortentwicklung der Verwaltungsorganisation. Was die einzelnen Beschäftigten an Handlungsfähigkeit gewinnen, soll zugleich die Funktionskraft der Verwaltung im ganzen stärken. Selbstgestaltung unterstützt den Bedarf an situationsgerechter Flexibilität des Verwaltungshandelns: Verwaltung steht unter dem Verfassungsgebot der Rechtsstaatlichkeit; das verlangt Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Gleichheit in der Rechtsanwendung auf jeden Einzelfall. "Doch jeder Einzelfall ist anders. Zudem treten nach Erlaß der Gesetzes viele neue, zuvor unbekannte Fälle auf. Der gesetzliche Begriff altert. Es bedarf der situativen Anreicherung Anpassung und Entfaltung, der zeitgerechten Konkretisierung, damit das Gesetz nicht lebensfremd, funktionslos und damit unwirksam wird ", stellt Hermann Hill fest.

Nicht nur kann sich der gesellschaftliche Sinn von Verwaltungsaufgaben in der Zeit verschieben, können Aufgaben obsolet werden, sondern Sachbearbeiter müssen darüber hinaus mitunter gegensätzliche, Aufgabenstellungen vereinbar machen, gelegentlich auch gegen die Vorschrift verstoßen, um handlungsfähig zu bleiben. Nach Renate Mayntz ist es "im Interesse dieser Handlungsfähigkeit. . . oft nötig, die Lücken formeller Regeln auszufüllen, unzulängliche Regeln an die Erfordernisse der jeweiligen Situation anzupassen, etwas zu tun, was niemand offiziell verlangen kann, zeitraubende Nebenbestimmungen zu übersehen oder im Verkehr mit Klienten wie mit anderen Behörden Verhandlungs-, Tausch- und Einschüchterungsstrategien anzuwenden, die offiziell weder vorgesehen noch zu rechtfertigen sind".

Sollen Informationssysteme nicht zur Zwangsjacke für Sachbearbeiter werden, müssen sie den Anforderungen an situationsgerechtes und flexibles Verwaltungshandeln schon im Entstehungsprozeß Rechnung tragen.

Die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung der informationstechnischen Infrastruktur in der Kommunlalverwaltung ist groß: "Engpässe der zentralen Datenverarbeitung

- insbesondere bei der Software-Entwicklung - auf der einen, wachsende Möglichkeiten im Bereich individueller Datenverarbeitung auf der anderen Seite. . . Einerseits muß der Anwender seine Wünsche nach individueller Datenverarbeitung (mit dem PC) verwirklichen können, andererseits muß aus der Gesamtsicht der Verwaltung die "einheitliche Informationsversorgung,, sichergestellt werden".

Jürgen Ostermann von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (von dem diese Beschreibung des Dilemmas stammt) gibt eine pessimistische Prognose: "Vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Haushaltslage vieler Kommunalverwaltungen ist das Fiasko vorgezeichnet: Haushaltssperre, Kürzung der Ansätze mit dem Rasenmäher werden die Fortbildung selbst in der rudimentären Form dezimieren. Technikunterstützte Informationsverarbeitung wird zum Maschinenproblem verkommen - Organisation vor Automation wird weiter ein frommer Wunsch bleiben - zu Lasten des Bürgers und des Mitarbeiters." Man kann dieser Prognose einen Realitätsgehalt gewiß nicht absprechen - dennoch: Unser Humanisierungs-Projekt arbeitet praktisch dagegen an.

Ausgangspunkt für die Entwicklung der DV-Anwendung ist die Protokollierung von Gemeinderatssitzungen und die Auswertung der Protokolle für politische Entscheidungen und Planungszwecke in einer kleinen Gemeindeverwaltung (etwa 6000 Einwohner).

Für die Selbstverwaltung der Kommunen sind die Beschlußprotokolle der Gemeindegremien von zentraler Bedeutung, da anhand der Niederschriften die Arbeit der Gremien und deren Auswirkungen auf die Gemeinde dokumentiert und nachvollziehbar werden.

Die Protokolle der Gemeindegremien wurden bislang als zusammenfassende Wortprotokolle handschriftlich abgefaßt und in Ordnern gesammelt. Die Suche nach einem bestimmten Beschluß erfolgte häufig nach mündlicher Beratung mit den Vertretern der Gremien oder dem Protokollanten, um die Suche auf Zeiträume oder kontextbezogene Zusammenhänge eingrenzen zu können.

Autonomes DV-System kann Unabhängigkeit sichern

Ein besonderes Problem ist, daß oft nicht geklärt werden kann, ob, wann und mit welchem Ergebnis bereits ein Beschluß getroffen wurde, so daß immer wieder Beschlüsse mit unterschiedlichen Ergebnissen zum gleichen Gegenstand vorkommen. Das Protokollvolumen beträgt zirka 600 DIN-A4-Seiten pro Jahr mit steigender Tendenz.

Ein computerunterstütztes Informationssystem kann einerseits dazu benutzt werden, den Zugriff für einen größeren Nutzerkreis zu ermöglichen und andererseits - bei Zugangsbeschränkungen - einen Informationsvorsprung etwa der Verwaltungsführung oder einer Fraktion zu fördern. Die Aufgabe der computerunterstützten Protokollarchivierung und -recherche unterliegt damit den unterschiedlichen teils gegensätzlichen Interessen der Fraktionen, des Vorstands, der Verwaltungsführung und der an der Aufgabe beteiligten Beschäftigten; sie beinhaltet ein Stück verwaltungspolitischen Sprengstoff.

An der Systementwicklung nahmen zunächst zwei Beschäftige der Verwaltung auf freiwilliger Basis teil. Diese - Assistenzkräfte des Bürgermeisters und aus dem Hauptamt - sind für die Archivierung und Suche nach Protokollen und für die Wiedervorlage und Terminverwaltung zuständig. Diese Beschäftigten hatten keine DV-Vorkenntnisse. Für diesen Aufgabenbereich sind fertige Systemlösungen verfügbar. So bietet etwa das zuständige kommunale Gebietsrechenzentrum eine Datenbanklösung an, die eine Protokollrecherche nach der Eingabe von Schlagworten ermöglicht. Diese schnell zu realisierende Nutzung wurde abgelehnt:

- Eine Recherche nach Schlagworten kann neu entstehende Begriffe nicht ausreichend berücksichtigen beziehungsweise ist nur mit erheblichem Zeitaufwand aktualisierbar. Unter dem Begriff Umweltverschmutzung etwa müssen auch zurückliegende Protokolle mit anderen Begriffen wie Wasserverunreinigung, wilde Mülldeponie etc. gefunden werden, mit anderen Worten: Man muß auch nach Synonymen suchen können.

- Die Erfahrungen der Gemeindeverwaltung, daß ein Datenzugriff beim Rechenzentrum - sei es aus Gründen der Wartung von Updates oder Leitungsstörungen - nicht jederzeit möglich war, ließen eine gewisse Unabhängigkeit der Verwaltung durch ein autonomes DV-System als sinnvoll erscheinen.

- Virulent ist die Befürchtung, daß Beschlüsse der Gemeinde nicht mehr ausschließlich der eigenen Kontrolle unterliegen, da eine Überwachung der Zugangsbefugnis an Dritte übertragen wird.

Das Gemeinderats-Informationssystem beschränkt sich zunächst auf eine Einzelplatzlösung, die - abhängig von der Nutzung - im Laufe des Projektes erweitert werden soll. Die Idee, die Wortprotokolle nur auf Beschlußtexte mit den Abstimmungsergebnissen zu reduzieren, wurde von allen Beteiligten verworfen. Die Mitglieder des Gemeindeparlaments seien keine Berufspolitiker und darauf angewiesen, gerade bei heiklen Fragen, auch nach längeren Zeiträumen, die Entwicklung anhand von Wortprotokollen nachzuvollziehen. Dies gelte insbesondere für neugewählte Gemeindevertreter.

Ein weiteres Problem stellen ungenaue Formulierungen bei Anfragen dar, die erst durch den "Spürsinn" des Beschäftigten in konkrete Abfragen zu übersetzen sind, um dann - falls sinnvoll und erforderlich - eine Ergänzung der Synonymlisten vorzunehmen.

Ein den beschriebenen Anforderungen entsprechendes System wird mit entsprechender Unterstützung von den Assistenzkräften selbst entwickelt. Aufgrund einer Marktanalyse und von Anwenderbesuchen würde ein Volltext-Retrievalsystem für Personal Computer ausgewählt, welches den aufgabenbezogenen Anforderungen weitgehend gerecht wird.

Problematisch ist die Erlernbarkeit des Programmes und die softwaretechnische Lernunterstützung bei der Anwendungsentwicklung durch DV-Laien. Dieses Defizit wird durch einen erhöhten Qualifizierungsaufwand und ein entsprechendes Qualifizierungskonzept ausgeglichen.

Um den Einstieg in den Selbstgestaltungsprozeß zu erleichtern, wurde das System zunächst mit einer Testanwendung installiert. Dieser Prototyp folgte den Funktionsanforderungen der Beschäftigten, die sich auf eine Strukturierung der Protokolle nach Feldern und Schlüsselfeldern bezogen, um differenzierte Suchmöglichkeiten innerhalb der Protokolltexte zu ermöglichen: zum Beispiel Recherche nach einem Sitzungsdatum oder nur innerhalb der Tagesordnung - und dies als Bildschirmanzeige oder Ausdruck (direkt oder in Dateien).

Die Assistenzkräfte haben die Möglichkeit, Synonyme bei der Suche ad hoc zu definieren, sie können diese gegebenenfalls abspeichern und später, bei ähnlich strukturierten Suchaufträgen, darauf zugreifen. Die Suchanfragen werden von ihnen in der Regel in einer Datei zwischengespeichert und anschließend für den Auftraggeber individuell aufbereitet. Je nach Bedarf können die Assistenzkräfte weitere Informationen zu dem angefragten Themenkomplex - etwa Passagen aus der Gemeindesatzung oder Haushaltskalkulationen in das Antwortschreiben einfügen.

Parallel zu diesem Einsatz wird ein mehrstufiges Qualifizierungskonzept mit Selbstschulungsphasendurchgeführt, mittels dessen die Beschäftigten lernen, eigene Datenbankanwendungen zu erstellen, über den Prototyp hinausgehende Funktionsmöglichkeiten zu nutzen und weitere Anforderungen an das System zu entwickeln und so weit als möglich selbständig umzusetzen

Dazu gehören etwa selbst erstellte Makros für ständig wiederkehrende Suchanfragen, für kleine Anwendungen, wie ein einfaches Wiedervorlagesystem, oder die variable Nutzung von Formularvordrucken. Auch Verknüpfungen zwischen dem Retrievalsystem der Textverarbeitung und der Tabellenkalkulation können mit Hilfe von Makrofunktionen (hier in Velbindung mit Batchdateien) komfortabel gestaltet und den sich ändernden Bedingungen der Aufgabenerledigung angepaßt werden.

Die Teilnahme vieler Benutzer ist gefragt

Im Laufe der Systementwicklung wurden weitere Nutzungsmöglichkeiten diskutiert und in den Entwicklungsprozeß einbezogen: Informationstransfer zu den Bürgern und Fremdenverkehrsgästen, Aufbereitung wichtiger Daten zur Gemeindeentwicklung, von Informationsbroschüren und Veranstaltungshinweisen, Einbeziehung einer Ortssatzung und der Protokolle der Gemeindeausschüsse in das Informationssystem. Ferner sollen Programme für haushalts- und projektorientierte Kalkulationen verfügbar sein.

Die neuen Anforderungen an das Informationssystem erfordern die Teilnahme weiterer Beschäftigter und Nutzer: So wird ein Sachbearbeiter aus dem Bereich des Finanzwesens für die Entwicklung von Kalkulationsmodellen in die Systementwicklung einbezogen.

Das Softwareprodukt allein ist zu wenig

Für Gemeindevertreter und interessierte Bürger wird die Installation eines Auskunftsterminals diskutiert, an dem häufig vorkommende Abfragen menügesteuert, das heißt ohne Unterstützung durch die Beschäftigten möglich sind. Unterschiedliche Mehrplatzlösungen (PC-Netzwerk oder Unix) werden von den Beschäftigten und der Verwaltungsleitung geprüft. Diese Entwicklung zeigt, daß die Aufgabe und ihre Erfüllung nicht statisch sind. Die Dynamik dieses Entwicklungsprozesses zeigt aber auch, daß die Aufgabenbearbeitung nicht mit einem Softwareprodukt allein unterstützbar ist.

Literaturhinweis:

Döble-Berger, Claudia: van Treeck, Werner:

Zimmer, Gerhard: Softwarenutzung am Arbeitsplatz und berufliche Weiterbildung. Eine explorative Studie, Kassel 1988.

Freiburg, Dieter: Ergonomie in Dokumenten-Retrievalsystemen, Berlin, New York 1987.

Hill, Hermann: Rechtsstaatliche Bestimmtheit oder situationsgerechte Flexibilität des Verwaltungshandelns, in: Die Öffentliche Verwaltung, Heft 20, Okt. 1987, S. 885f.

Mayntz, Renate: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, Heidelberg, Karlsruhe 1978.

Riehl, Heinrich: Schäfer. Wolfgang: van Treeck, Werner: Aufgabenkritische Anwendungsentwicklung durch den Sachbearbeitel Fallbeispiele aus einem HdA-Projekt, in: Ober quelle, H.: Software-Ergonomie 89, Stuttgart 1989.