Interview mit Derek Prior von Gartner

"Anwender müssen prüfen, ob sich Mysap.com rechnet"

21.09.2001
Ob sie bei der Nutzung neuer SAP-Produkte zu den Ersten zählen wollen, sollten Anwender gut überlegen. CW-Redakteur Robert Gammel befragte dazu Derek Prior, Research Director bei Gartner, auf dem Jahreskongress 2001 der Deutschen SAP Anwendergruppe e. V. (DSAG) in Berlin.

CW: Man gewinnt auf dieser Veranstaltung den Eindruck, dass viele SAP-Anwender nicht richtig verstanden haben, was "Mysap.com" eigentlich ist. Können Sie in einem Satz sagen, worum es sich handelt?

Prior: Das ist fast unmöglich, weil der Begriff Mysap.com bisher für unterschiedliche Dinge benutzt wurde. Es bezeichnete die SAP-Internet-Strategie, es war ein Name für einige Portale, mehrere Applikationen enthalten die Bezeichnung Mysap.com, und einige Services tragen Mysap.com als Bestandteil ihres Namens. Unter Marketing-Gesichtspunkten war es keine gute Idee, den Begriff so umfassend zu nutzen. Amerikanische Firmen wie Oracle oder Peoplesoft sind im Vergleich wahre Marketing-Meister.

SAP war in der Vergangenheit immer sehr technisch orientiert. Viele Kunden konnten nicht folgen und dachten, das Unternehmen sitzt nicht im Internet-Boot. In Wirklichkeit war es nur ein wenig langsam, hat inzwischen aber gut aufgeholt. Mittlerweile stellen wir fest, dass SAP mit seiner Internet-Strategie in einigen Bereichen zu den Marktführen zählt. Die SAP-Portal-Initiative ist beispielsweise richtungsweisend.

CW: Inwieweit hat sich SAPs Marketing-Strategie inzwischen geändert?

Prior: Das Unternehmen hat jetzt eine viel klarere Marketing-Strategie, die ist logisch und global konsistent. Wir sehen überall dieselbe Terminologie, den vorsichtigen Gebrauch von "Mysap.com". Für die Anwender sind das gute Nachrichten. Aber es reicht bei weitem nicht aus, ein gutes Marketing zu haben. Wichtig ist, dass auch die Gesamtheit der SAP-Repräsentanten wie Verkauf, Support und Beratung die gleiche Botschaft vermitteln.

CW: Mittlerweile verkauft SAP unter dem Label Mysap.com umfangreiche Softwarepakete. Haben die Partner und Systemhäuser Mysap.com inzwischen richtig verstanden?

Prior: Anfangs waren natürlich auch die Partner verwirrt - wie alle. Ich glaube aber, dass die Partner das Potenzial von Mysap.com schneller erkannt haben. Die Ankündigungen großer Beratungsunternehmen wie Pricewaterhouse-Coopers, Accenture und IBM auf der diesjährigen Anwenderkonferenz Sapphire machen dies deutlich: Alle haben sich entschieden, eine große Zahl von Beratern im Bereich Mysap.com einzusetzen.

CW: Finden die Anwender schon Berater mit dem erforderlichen Know-how?

Prior: Nein. Lassen Sie uns realistisch sein: Wenn neue Produkte auf den Markt kommen, gibt es immer eine Verzögerung zwischen der Verfügbarkeit und dem Auftreten von Experten, die nicht nur geschult wurden, sondern auch schon einige Installationen realisiert haben und den Kunden nicht nur als Versuchskaninchen für ihre eigene Lernkurve missbrauchen. SAP fährt hier die Strategie, die frühen Implementierungen selbst zu übernehmen, auch weil sie das schnelle Feedback für die Entwicklung braucht, falls etwas schief läuft. Wie gut die großen und kleinen Partner ihren Job machen, müssen wir noch abwarten.

CW: Die kleineren Partner beklagen, sie bräuchten mehr Informationen und Schulungsangebote.

Prior: Das ist natürlich ein wichtiges Thema, besonders weil sich SAP sehr schnell von einem mittelgroßen Produktportfolio zu einem riesigen Sortiment entwickelt hat. Man muss sich nur klarmachen, dass Mysap.com sieben sehr umfassende Applikationsbereiche einschließt, wo früher nur ein Bereich war. Allein daran kann man schon erkennen, welchen Aufwand es bedeutet, die Leute zu schulen und für Projekte erfahrene Mitarbeiter zu bekommen.

CW: Eine der neuen Applikationen betrifft das Customer-Relationship-Management (CRM). SAP hat prophezeit, innerhalb der eigenen Anwendergemeinde Siebel bis Ende des Jahres zu überflügeln. Glauben Sie, dass die Walldorfer dieses Ziel erreichen können?

Prior: Das Ziel ist, 400 Millionen Euro Umsatz mit Softwarelizenzen zu machen. Bis jetzt haben sich die beiden ersten Quartale vernünftig entwickelt. Man muss aber bedenken, dass Siebel ein ganzes Stück voraus ist. In Europa hat Siebel den Gartner-Zahlen zufolge einen Marktanteil von rund 26 Prozent, wogegen SAP nur auf zwei bis drei Prozent kommt. SAP verfügt über eine sehr große Basis an Installationen. Davon haben sich allerdings viele bereits für Siebel entschieden. Eine große Zahl der Anwender verhielt sich aber aufgrund von Integrationsproblemen abwartend. Wir glauben daher, dass viele SAP-Anwender auf CRM 3.0 setzen werden. Es gibt eine Untersuchung von Gartner, die CRM 3.0 mit den Lösungen anderer Hersteller wie Siebel vergleicht. Im Bereich Verkauf haben wir festgestellt, dass SAP stark aufgeholt hat. Darüber hinaus bietet die SAP einige Vorteile bei der Lizenzierung: Sie kann alle Teile im Bundle anbieten, während Siebel seine Produkte einzeln verkauft. Das wird Siebel noch beschäftigen.

CW: Wie viele Kunden nutzen das CRM-Modul von SAP?

Prior: Von SAP gibt es die Aussage, mehrere hundert Entwickler führten derzeit bei rund 800 Kunden CRM ein. Momentan einen Live-Anwender der Version 2 zu finden ist jedoch eine Herausforderung.

CW: Hat Gartner Zahlen erhoben, wie viele R/3-Anwender bereits auf Mysap.com migriert sind und wie viele darüber nachdenken?

Prior: Ich glaube, es sind ungefähr zehn Prozent der SAP-R/3-Anwender, die ein Upgrade erworben haben. Anwender müssen sich dabei überlegen, ob sie genügend Anwendungen aus dem ganzen Paket nutzen, damit sich der Kauf einer Mysap.com-Lizenz rechnet. Man kann ja auch nur eine Lizenz für einzelne Komponenten kaufen, wenn man lediglich dieses eine Stück braucht.

CW: Die Nutzung dieser neuen Anwendungen führt zu viel komplexeren Infrastrukturen und kostet sehr viel Geld. Ist es da für die Unternehmen nicht schwer, den Return on Investment zu berechnen?

Prior: Das ist eine Schlüsselfrage. Es war schon in der R/3-Welt schwierig, den ROI überzeugend zu messen. Das Problem bei der Einführung eines ERP-Systems ist, das sich während des Implementierungsprozesses im Unternehmen vieles ändert. Und wenn sich das gesamte Geschäft ändert, ist es auch sehr schwierig, einzelne Schlüsselindikatoren zu isolieren.

CW: Wie sollten Unternehmen dann vorgehen?

Prior: Das ist eine sehr schwere Sache und auch der Hauptgrund, warum die DSAG in diesem Bereich mit Gartner zusammenarbeitet. Das beginnt ja bereits bei der zunehmenden Komplexität der Infrastruktur. Es gibt einige Möglichkeiten, um diese Einflüsse zu minimieren, zum Beispiel den Ansatz, mehrere Applikationen auf einer Datenbank und einem Server laufen zu lassen, oder mit Hilfe moderner Serverpartitionierungs-Technologie die Zahl der kleineren Server zu reduzieren. Das alles hilft, aber es bleibt trotzdem eine hohe Komplexität, die verstanden und verwaltet werden muss. Da braucht man genaue Kenntnisse der gesamten Infrastruktur und eine Reihe erfahrener Leute im eigenen Unternehmen, auf die man sich verlassen kann.

CW: Sie haben diese Leute einmal Infrastruktur-Architekten genannt?

Prior: Ja. Sie richten den Blick auf die Zusammenhänge im Gesamtsystem anstatt auf die Details.

CW: Wie viele Jahre müssen da noch ins Land gehen, bis man solche Leute findet?

Prior: Wir beobachten, dass die erfahreneren SAP- und IT-Professionals mehr und mehr zur Architektenrolle tendieren. In der SAP-Welt ist dafür ein gutes Verständnis der Geschäftsprozesse und der Applikationen nötig. Die Integration von Business- und IT-Wissen setzt einige Jahre Erfahrung vo-raus.

CW: Bietet Mysap.com eigentlich genügend Möglichkeiten für die Applikationsintegration, oder brauche ich zusätzlich Enterprise-Application-Integration-Software von Drittanbietern?

Prior: Im Moment kommen die Anwender für eine umfassende Application-to-Application-Integration-Strategie nicht ohne EAI-Software aus. Wir erwarten, dass SAP eine stärkere Partnerschaft mit einem der EAI-Anbieter eingehen wird. Anwender können mit Tibco, Mercator, IBM oder Webmethods unter vielen Anbietern wählen, die bereits Plug-in-Adapter für SAP offerieren. Dies macht es den Nutzern in der Praxis jedoch nicht leichter, die richtige Lösung zu finden. Wir haben gehört, dass SAP eine Partnerschaft aufbauen wird, in deren Rahmen eine Art Messaging-Broker-Ansatz einzelne Anwendungen miteinander verbinden soll.

CW: Eine Möglichkeit, Anwendungen für den Nutzer auf einer Oberfläche zusammenzuführen bietet "Enterprise-Portal", der für Ende des Jahres angekündigte Nachfolger von "Workplace 2.11". Wie aufwändig ist dessen Einführung?

Prior: Da gibt es noch sehr viele Missverständnisse. Zuerst muss der IT-Spezialist beispielsweise die individuellen Anforderungen der unterschiedlichen Anwendergruppen im Unternehmen verstehen. Das gilt besonders für die Gelegenheitsanwender, weil diese früher typischerweise nicht in R/3 gearbeitet haben. Die Unternehmen sollten hier klein anfangen und das Projekt schrittweise auf andere Anwendergruppen im Unternehmen ausdehnen. Der Aufbau dieses Know-hows bereitet die Unternehmen auch auf den Collaborative Commerce vor. Firmen, die jetzt ihre interne Zusammenarbeit optimieren, sind später besser gerüstet, wenn es um die Zusammenarbeit mit Partnern und Zulieferern geht.

CW: Ergeben sich beim Collaborative Commerce nicht andere Anforderungen als bei der interne Zusammenarbeit?

Prior: Das stimmt natürlich. Da muss man sehr genau schauen, welche IT-Standards der Partner hat. Es sieht aber so aus, als würden sich XML und Marktplatztechnologien zum meist standardisierten Weg sowohl für die Application-to-Application- als auch für die Business-to-Business-Integration entwickeln.

CW: Für welche Anwender ist das "Enterprise Portal" konzipiert?

Prior: SAP versucht mit seiner Portal-Initiative, diese Technik zuerst bei der installierten Basis einzuführen, später soll sie aber auch anderen Kunden, und hier speziell Softwareherstellern, angeboten werden. SAP arbeitet in diesem Bereich bereits mit IBM ("Websphere Portal Server"), Microsoft ("Sharepoint Portal Server") und Baan zusammen. Diese Firmen haben einige Teile der SAP-Portal-Techniken eingesetzt, deren Ursprung klar bei dem mittlerweile von den Walldorfern übernommenen Anbieter Top-Tier liegt. Ist SAP-Portals erfolgreich, wird sich daraus ein Defacto-Industriestandard bilden.