Intranet und Extranet

Analysten präsentieren exorbitante Prognosen

16.12.1998
Die Zahlen sind phantastisch. In der IT-Geschichte gibt es kein Beispiel für einen so rasanten Aufwärtstrend. Nach allen einschlägigen Studien wächst der Markt für Intranets und Extranets in den kommenden Jahren so stark, daß nur noch das häufig bemühte Bild einer "Explosion" die rasche Verbreitung dieser Netze angemessen wiedergibt.

Von Johannes Kelch*

Nach Zahlen der IDC aus dem Jahr 1997 wächst der Weltmarkt für Produkte und Dienstleistungen rund um Internet und Intranet jährlich um nahezu 50 Prozent, fast fünfmal so stark wie der sonstige IT-Markt: von 18,5 Milliarden Dollar im Jahr 1996 auf 92,4 Milliarden im Jahr 2000.

Noch höhere Zahlen hat das kalifornische Unternehmen Zona Research, eine Tochter der Intelliquest Information Group, veröffentlicht. Zona will nach Angaben vom Oktober 1998 herausgefunden haben, daß der weltweite Markt für Internet und Intranet - Produkte und Dienstleistungen inbegriffen - von 49,21 Milliarden Dollar im Jahr 1997 auf 142 Milliarden Dollar im Jahr 2001 anschwellen wird.

Für die "elektronische Ökonomie" oder E-Commerce sagt Zona ebenfalls eine steile Aufwärtsbewegung voraus. Web-basierte Transaktionen beliefen sich demnach 1997 auf ein Volumen von 10,4 Milliarden Dollar. Diese Summe wird nach den Prognosen der Kalifornier bis 2001 auf über 200 Milliarden Dollar anwachsen.

Wer bietet mehr? Input. Im Juli 1998 veröffentlichte das Marktforschungs-unternehmen eine Prognose, die die Vorhersagen von IDC und Zona weit in den Schatten stellt. Auch nach Input-Zahlen wird die Wirtschaft weltweit für Internet und Intranet Jahr für Jahr 50 Prozent mehr Geld ausgeben. Demzufolge würde schon im Jahr 2002 ein Marktvolumen von 562 Milliarden Dollar erreicht sein, glauben die Input-Forscher. Allein die Ausgaben für Software und Services würden sich im Jahr 2 nach der Jahrtausendwende auf 300 Milliarden Dollar summieren.

Für Europa hat die Gartner Group in einem Anfang des Jahres veröffentlichten Report phantastische Zuwachsraten vorhergesagt. "1998 wird das Jahr des Extranet sein", prognostizierten die Forscher. In ganz Europa haben sie zwar "weitverbeitete Unkenntnis" in bezug auf Vorteile und Potentiale der neuesten Internet-Technologie ausgemacht. Trotzdem sagen sie in dem Report "Moving Business Online" ein rasches Marktwachstum voraus. Sie sehen einen engen Zusammenhang zwischen den bereits boomenden Intranet-Aktivitäten und dem beginnenden Extranet-Markt.

Zur Intranet-Verbreitung heißt es in dem Report: "47 Prozent aller Vorstände in ganz Europa planen die Installation eines Intranet in den nächsten zwei Jahren." Konsequent folgt laut Gartner Group die Erweiterung der Intranets um Extranets: "Mehr als 60 Prozent der großen Organisationen, die ein Intranet implementieren, werden innerhalb der nächsten fünf Jahre die sichere elektronische Kommunikation mit einigen externen Organisationen anstreben."

Für den deutschen Markt hat die Meta Group Untersuchungsergebnisse veröffentlicht, die auf einer Befragung von 300 Anwenderunternehmen basieren. Danach beläuft sich der Intranet- und Extranet-Markt 1998 auf 9,6 Milliarden Mark. "Extremes Wachstum" prophezeit die Meta Group vor allem "in den Bereichen Services und Telekommunikation". Bis zum Jahr 2001 beabsichtigten die meisten Unternehmen, die Internet-, Intra- und Extranet-Technologie "in ihrer gesamten Wertschöpfungskette" einzusetzen.

Hat bald jede zweite Firma ein Extranet?

Eine ähnliche Entwicklung in Deutschland und Frankreich erwarten die Marktforscher von Pierre Audoin Conseil (PAC) für die Zeit von 1998 bis 2000. Grundlage ihrer Vorhersagen ist eine Befragung von 250 französischen und 50 deutschen Firmen oder anderen Organisationen. Die öffentliche Hand, die Industrie und der Handel, die jeweils laut Umfrage bereits zu 25 Prozent über Intranets verfügen, werden zur Jahrtausendwende bereits zu mehr als 50 Prozent dieses Medium nutzen.

Noch stürmischer verläuft nach den Zahlen von PAC die Entwicklung bei den Extranets. Im öffentlichen Bereich, im Handel und bei Finanzdienstleistern, wo bisher nur fünf bis zehn Prozent der Befragten Extranets nutzen, sollen es zur Jahrtausendwende bereits 40 Prozent sein. Spitzenreiter werden jedoch die Industrieunternehmen sein, die dann schon zu 50 Prozent ein Extranet nutzen sollen.

Nicht nur Software, sondern auch Hardware für Intra- und Extranets erlebt einen Boom. Ein "exponentielles Wachstum im gesamten europäischen Markt für Intranet-Hardware" hat die Unternehmensberatung Frost & Sullivan im August 1997 vorhergesagt.

Nach der Studie steigen die Ausgaben für Intranet-Hardware in Europa von rund 600 Millionen Dollar im Jahr 1998 auf etwa 1,5 Milliarden im Jahr 2002.

Die exorbitanten Wachstumszahlen der Marktforscher lassen Zweifel aufkommen. Wie seriös sind die Studien, die zu diesen außergewöhnlichen Ergebnissen geführt haben? Steht die Welt im ausgehenden 20. Jahrhundert vor einer Revolution, die viele bisherigen IT-Errungenschaften zum "Schnee von gestern" degradiert und durch Internet-Technologie ersetzt?

Verkaufen die Marktforscher - "Wes Brot ich freß''..." - gegenüber ihren wachstumsorientierten Auftraggebern in der Computerindustrie und der Softwarebranche unter den neuen Schlagwörtern "Intranet" und "Extranet" die üblichen Ausgaben für Informationstechnologie? Echte Revolution oder leicht durchschaubares Marketing?

Ein Hinweis von Frank Gens von der US-amerikanischen IDC zeigt, wie schwierig die Abgrenzung der allgemeinen IT-Kosten von den besonderen Ausgaben für Intra- und Extranets ist. Gens bezeichnet die Daten der IDC als "konservativ", was soviel wie "gemäßigt" bedeutet. Die IDC hat nur Ausgaben der Endnutzer für Produkte und Dienstleistungen berücksichtigt, die "in erster Linie" den Zugang zu Informationen und Anwendungen übers Internet oder ein Intranet erlauben. Gens ist überzeugt, daß das wirkliche Wachstum mit diesen Zahlen "unterschätzt" wird.

Das Problem kristallisiert sich heraus: Eine klare Abtrennung der Ausgaben für Intra- und Extranets von den sonstigen IT-Investitonen ist kaum möglich, weil der überwiegende Anteil der Hard- und Software sowohl der herkömmlichen isolierten Arbeit am Rechner als auch den neuen kommunikativen Zwecken dient.

Der leitende Analyst bei Input, James Eibisch, sieht den Grund für die von seinem Unternehmen vorhergesagte Rekordprognose in der Brückenfunktion von Internet und Intranets: "Keine andere Technologie hat die Fähigkeit, so verschiedene Netzwerke, Systeme und Anwendungen zusammenzubringen."

Seit 1998 läuft laut Input per Internet-Technik die Integration von High-end-Anwendungen wie Enterprise Ressource Planning (ERP) und Wissens-Management. Der letztgenannte Aspekt wird nach Überzeugung der Input-Marktforscher "das am schnellsten wachsende Anwendungsfeld in den nächsten fünf Jahren" sein.

Felix Hamann, Geschäftsführer von Input Deutschland, ist sicher, daß die überaus hohen globalen Wachstumsvorhersagen seines Unternehmens nicht übertrieben sind. Input beachte besonders den schwer prognostizierbaren Service. Gerade die beratungsbezogenen Dienstleistungen verzeichnen laut Hamann starke Zuwächse.

Den Einwand, daß die IT-Etats der Unternehmen nicht in den Himmel wachsen werden, möchte Hamann so nicht gelten lassen. Nach Bewältigung des Datumsproblems 2000 und der Euro-Umstellung würden wieder Budgets frei. Er räumt allenfalls ein, daß die prognostizierten Zahlen eventuell ein bis zwei Jahre später Realität werden könnten.

Die Meta Group begründet das Marktwachstum bei Intra- und Extranets mit der neuen Qualität der Technologie. "Bis zum Jahr 2000 wird die Intranet-Revolu- tion zur primären Architektur für den Zugriff auf Firmeninformationen und -anwendungen herangereift sein", heißt es im Management-Summary der Deutschland-Studie. Web-Terminals werden sich laut Meta Group als Firmen-Desktops bis zur Jahrtausendwende nur begrenzt - zu etwa 15 Prozent - durchsetzen, doch Web-Zugangsgeräte würden sich an öffentlichen Orten - Hotels und Flughäfen - "rapide ausbreiten".

Eine erhebliche Qualitätssteigerung geht nach Ansicht der Meta Group bis 2000 vom Intranet-basierten Datenbank-Zugriff aus. Während bisher noch die Übermittlung von Informationen die wichtigste Intranet-Anwendung sei, werde der Datenbank-Zugriff Geschäftsabläufe - Lieferung, Produktion, Verkauf und Support - verbessern und den höchsten "Return on Investment" beitragen.

Laut Meta Group wird es zu einer "Explosion aller Arten von Intranet-Anwendungen" kommen. Als Beispiele nennen die Marktforscher Intranet-basierte Videokonferenz-Produkte und das Data-Warehousing. So sei der Zugriff auf die gesammelten Informationen eines Unternehmens über das Intranet ohne nennenswerten Aufwand ein "wichtiger Erfolgsfaktor".

Die Gartner Group spricht in ihrem Report schon von einer Ablösung von Mainframes und Client-Server-Architekturen durch die Internet-Technologie. Die Meta Group will in ihrer Befragung herausgefunden haben, daß die deutschen Unternehmen derzeit am Einsatz von Web-Browsern für den Zugriff auf Großrechner sowie an der Verminderung der Client-Software-Komponenten interessiert seien.

Bis zur Jahrtausendwende, so der Meta-Forschungsbericht, werden Unternehmen ihre Großrechner-Anwendungen nicht nur irgendwie "Internet-fähig" machen. Vielmehr gehe es um eine tiefe Einbindung von Internet-Technologie, eine echte Integra- tion von Legacy-Systemen ins Intranet, wozu die Anwender reichlich Consulting und Services in Anspruch nehmen müßten.

Die Unternehmensberatung Frost & Sullivan macht darauf aufmerksam, daß Intra- und Extranets spezielle Investitionen erfordern, die nicht der sonstigen IT zuzurechnen sind. Forschungs-Manager Mitul Metha sieht eine "zunehmende Dominanz" bei Produkten für die Netzsicherheit. Die Unternehmen benötigten in den kommenden Jahren Firewalls, Virenschutz und Verschlüsselungstechniken als Systemvoraussetzung für Intranets, so Metha.

Der Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme BVB benennt einige handfeste Gründe, die Unternehmen zur raschen Einführung von Intra- und Extranets zu motivieren, und unterstützt damit die optimistischen Prognosen der Marktforscher. Geschäftsführer Werner Senger sieht erhebliche Synergieeffekte durch die firmenweite Nutzung von Wissensdatenbanken und die bessere Information der Mitarbeiter.

Mit Extranets können nach Sengers Darstellung viele Unternehmen ihre Vertriebskosten vermindern, da bestimmte Makler und Händler nicht mehr benötigt würden. "Wer nicht auf den Zug aufspringt, wird verlieren", gibt Senger den Unternehmen zu bedenken.

*Johannes Kelch ist freier Journalist in München.