Compuserve hat nur vage Vorstellungen zur Web-Zukunft

America Online: Absage an das Internet läßt Analysten zweifeln

14.06.1996

Auch der größte Online-Dienst, so die in Analystenkreisen weitverbreitete Meinung, wird nicht darum herumkommen, den Weg einzuschlagen, den seine Widersacher bereits gegangen sind: AOL- Wettbewerber wie Microsoft, AT&T, Compuserve oder Prodigy haben angekündigt, ihre Services ab sofort oder in naher Zukunft den Internet-Standards anzupassen. Damit können diese Dienste über einen Web-Browser wie Netscape/"Navigator", "Mosaic" oder "Explorer" von Microsoft erreicht werden.

Internet-basierte Informationsdienste, die kostenlos oder zu überschaubaren Einmal-Gebühren genutzt werden können, gelten als überlegene Konkurrenz für proprietäre Online-Dienste wie AOL. Anwender empfinden es offenkundig als gravierenden Nachteil, daß allein die Zeit, die sie online verbringen, über die zu entrichtenden Gebühren entscheiden soll.

Wie die "Financial Times" mitteilt, hat AOL dem Analysten David Readerman von Montgomery Securities in San Franzisko das Downgrading zu verdanken. Die Kaufempfehlung wurde zurückgenommen, weil AOL unter wachsenden Konkurrenzdruck geraten werde. Der Kurs fiel daraufhin von 54 auf knapp 43 Dollar, erholte sich allerdings rasch wieder und lag zum Redaktionsschluß bei knapp 49 Dollar.

Der AOL-Dienst, so argumentiert Readerman, basiere auf einer proprietären Technik. Kunden benötigten im Gegensatz zu allen anderen Diensten ein besonderes Programm für den Zugriff. Damit stehe AOL im Unterschied zur Konkurrenz weiterhin vor enormen Distributions- und Entwicklungskosten.

Zwar glaube man an die Überlebensfähgikeit des weltweit größten Online-Dienstes, aber nur, wenn er auf das Internet ausgerichtet werde. Readerman stellte fest, daß der von AOL für die Sommermonate erwartete saisonale Rückgang stark mit dem ungebrochenen Wachstum im Internet-Business kontrastiere. AOL hatte nach eigenen Angaben im ersten Quartal dieses Jahres 900000 neue Abonnenten gewonnen, so daß in den USA eine Basis von 5,5 Millionen Mitgliedern erreicht wurde. Allerdings erwarten Analysten, daß die für das laufende Quartal erhofften 750000 neuen Abonnenten bei weitem nicht zusammenkommen.

Der Online-Dienst beginnt mit Rabatten gegenzusteuern. So sollen Anwender, die sehr häufig im Netz unterwegs sind, künftig deutlich weniger zahlen. Neue Mitglieder erhalten zu Beginn nicht wie bisher zehn, sondern 15 Freistunden. Solche Maßnahmen, argwöhnen Kritiker, könnten jedoch zu Lasten der Einnahmen gehen. Dennoch gibt es auch Prognosen, die AOL weiterhin rasantes Wachstum zutrauen. Dazu könnte unter anderem das Abkommen mit Microsoft beitragen, wonach Windows 95 demnächst standardmäßig einen AOL- Icon für den Zugriff auf den Online-Dienst erhalten soll.

Womit verdient Compuserve?

Der zweitgrößte Online-Dienst, Compuserve, hatte erst vor wenigen Wochen angekündigt, den proprietären Client zum Jahresende abzuschaffen und seine Dienste über das Internet anzubieten. Der Schritt, den HTML- Standard anzuerkennen und die proprietäre in eine offene Umgebung zu verwandeln, wird in der Branche zwar als unvermeidlich angesehen, wirft jedoch eine entscheidende Frage auf: Wie will Compuserve künftig Geld verdienen?

Zunächst einmal erwartet Compuserve geringere Kosten, da die Inhalte für den Internet-Dienst künftig nicht mehr komplett für die eigene proprietäre Welt entworfen werden müssen, sondern am Markt eingekauft werden können. Einem Beitrag des Londoner Branchendienstes "Computergram" zufolge rechnet Compuserve damit, Produkte um 75 Prozent schneller in den Markt drücken zu können als bisher.

Allerdings räumt das Unternehmen ein, man sei noch dabei, eine Autorisierungstechnik zu entwickeln, um das Kundenverhalten beobachten und den Zugriff in Rechnung stellen zu können, wenn die Compuserve-Dienste von jedem Web-Browser aus erreichbar sind. Zur Zeit setzt sich der Umsatz im wesentlichen aus Abonnentengebühren zusammen, und auch im Internet sollen die Benutzer irgendwie zur Kasse gebeten werden. Allerdings will man auch mit Anzeigenkunden und Partnern Einnahmen erwirtschaften.