Jahresrückblick/Jahresrückblick 2003 Oktober bis Dezember

Als die IT-Branche erwachsen wurde (IV)

19.12.2003
2003 war ein Jahr, in dem sich die Firmen die Wunden leckten. Konsolidierung war ein Schlagwort wie auch Kostenreduzierung um jeden Preis. Das Thema Outsourcing kam bei deutschen Firmen, insbesondere aus der Finanzwelt, ganz groß in Mode. Genauso groß waren aber auch die Flops, die die Auslagerung von IT mit sich brachte. Überhaupt war es das Jahr von Pleiten, Pech und Pannen.

OKTOBER

Und noch ein großer Outsourcing-Deal schlägt im Herbst hohe Wellen: Bereits an Accenture vergeben war die IT-Infrastruktur der Deutschen Bank. Nun offenbart Chief Operating Officer (COO) Hermann-Josef Lamberti, dass auch die einst als Kernkompetenz der Banker erachtete Anwendungsentwicklung außer Haus gegeben werden soll. Offiziell ist das zwar noch nicht, aber intern wurde die Belegschaft über die Pläne bereits informiert.

Das Europäische Parlament billigt im Oktober einen Richtlinienentwurf zum Patentrechtsschutz von Software, der zwar prinzipiell Patente in der Softwarebranche möglich macht - allerdings nicht für reine Softwareprogramme. Allerdings ist noch nichts beschlossene Sache. Der Ministerrat muss sich erst noch mit der Novelle befassen - das ist nicht vor dem November der Fall.

Mal ganz andere Neuigkeiten verbreitet Accenture: Das IT-Beratungshaus meldet 700 offene Stellen im deutschsprachigen Raum, für 400 Jungberater und 300 Fachinformatiker. Gleichzeitig kürzt es seinen Senior Managern die Basisgehälter um 20 Prozent, entlohnt dafür die unteren Gehaltsgruppen künftig besser. Ein internes Benchmarking, wie die Überprüfung von Gehaltszahlungsgrundsätzen neudeutsch heisst, habe eine Schieflage des Entlohnungssystems zutage gefördert.

Eine Schieflage muss zunehmend auch Sun konstatieren. Die Geschäftszahlen weisen nach unten, das Geschäftsmodell - Absenz von der Microsoft-Welt und nur eine minimale Präsenz im Markt für Rechner mit Intel-Chips - führt zunehmend in die Nische. Jetzt gerät Sun-Chef McNealy auch öffentlich zunehmend in die Kritik. Für das erste Quartal des neuen Geschäftsjahres 2003/04 befürchtet der Lonesome Cowboy der IT-Szene einen herben Verlust von 230 bis 325 Millionen Dollar. Quo vadis, Sun?

Bilanzfrisierung gefällig?

Eine Klage mehrerer ehemaliger IBM-Mitarbeiter sowie der Angehörigen einer mittlerweile verstorbenen Kollegin gegen ihren früheren Arbeitgeber könnte Sprengstoff für die gesamte Chipindustrie in sich bergen. Big Blue wird beschuldigt, in seinen Halbleiterfertigungsstätten gesundheitsgefährdende Substanzen eingesetzt und dies den Mitarbeitern auch noch verschwiegen zu haben. Die Substanzen seien für teilweise seltene Formen von Krebserkrankungen verantwortlich. Intel, größter Halbleiterhersteller der Welt, sowie Infineon lassen verlautbaren, sie sähen eventuellen Klagen auch gegen sie gelassen entgegen. In ihren Fabrikationsstätten würden strengste Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Mitarbeiter eingehalten.

Schlechte Zeiten für Microsoft auch in Asien: Dort formt sich eine Allianz gegen Windows und Microsoft-Applikationen. Vertreter der Regierungen von Japan, China und Südkorea hatten sich in der kambodschanischen Hauptstadt Pnom Penh getroffen und ein Abkommen unterzeichnet, demzufolge sie ein eigenes Open-Source-Betriebssystem entwickeln wollen. Südkorea wird noch konkreter: Bis 2007 sollen Tausende Rechner in Ministerien, regierungsnahen Organsiationen und Universitäten mit Open-Source-Software ausgestattet werden.

Im Sommer hatte EMC sich Legato für 1,3 Milliarden Dollar gekauft, jetzt setzt der Massenspeicherspzialist seine Übernahmerunde fort und erwirbt für 1,7 Milliarden Dollar den Anbieter von Content-Management-Systemen Documentum.

Computer Associates gibt zu, was die US-Börsenaufsicht anderen Unternehmen noch nachzuweisen sucht: Fehlerhafte Verbuchungen von Umsätzen, weniger elegant als Bilanzfrisierung bezeichnet. So will es CA natürlich nicht verstanden wissen, sondern spricht von verfrühten Umsatzbuchungen.

Danach wurden Einnahmen schon vor den Vertragsabschlüssen mit Kunden in die Bilanz gestellt. Trotzdem räumt CEO Sanjay Kumar auf, drei Topmanager werden gefeuert, darunter Finanzchef Ira Zar.

Und schon wieder schlechte Nachrichten für Microsoft: Jetzt prüfen auch verschiedene britische Behörden in neun Pilotprojekten die Tauglichkeit von Open-Source-Software. Zudem will die russische Regierung quelloffene Programme fördern. Gemeinsam mit IBM planen die Russen ein Linux-Zentrum in Moskau.

Entschädigt wird die Gates-Company dafür durch das Ergebnis eines Wettstreits zwischen SAPs Mittelstandssoftware "Business One" unhd "Navision" von Microsoft Business Solutions. Den Vergleich initiiert hatte der auf Softwaretests spezialisierte IT-Experte Werner Schmid, Geschäftsführer der Gesellschaft zur Prüfung von Software (GPS) aus Ulm. Neben einer fünfköpfigen Jury durfte auch das vielzählig anwesende Publikum sein Urteil über die beiden Kontrahenten abgeben. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Navision war in allen Belangen, in denen eine Vergleichbarkeit herzustellen war, überlegen.

Politiker und IT

Was haben das Lkw-Mautsystem und die Gerster-Behörde der Bundesanstalt für Arbeit (BA) miteinander gemein? Bei beiden hat die Bundesregierung ihre Finger im Spiel, bei beiden könnten Vorgaben aus Berlin IT-Verantwortliche an den Rand des Wahnsinns treiben. Beim Mautsystem, nur noch als Torso eines IT-Projekts zu bezeichnen, haben völlig unrealistische Zeitvorgaben der Bundespolitiker offensichtlich nicht unwesentlich zum Chaos und technischen Fiasko der Betreibergesellschaft Toll Collect beigetragen. Jetzt sieht sich die BA mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Gesetzentwurf Hartz IV und hier die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II IT-technisch in dem Projekt ALG II umzusetzen. Weil sich die Voraussetzungen für Hartz IV im munteren Streiten zwischen Koalition und Opposition jedoch ständig ändern, wissen die IT-Verantwortlichen der BA nicht, wie und ob sie ihr Projekt bis Juli 2004 realisieren können. Deutschland hätte dann nach der Peinlichkeit Mautsystem gleich noch ein Beispiel dafür, wie Politiker sehenden Auges ein öffentlichkeitswirksames Projekt in die Katastrophe führen.

Ende Oktober macht der kanadische Softwareanbieter Open Text dem Münchner Archivspezialisten Ixos ein Übernahmeangebot. Robert Hoog, CEO von Ixos, spricht von einer "sehr attraktiven" Offerte. Auch die Ixos-Gründerfamilien Färber und Strack-Zimmermann scheinen nicht abgeneigt, den Deal bis Anfang 2004 in trockene Tücher zu bringen.

Donnerschlag für die CeBIT

Kleiner Donnerschlag in Richtung Hannover: HP, eines der Großunternehmen der IT-Szene mit traditioneller Präsenz in Halle 1 auf der CeBIT, wird der größten IT-Messe der Welt im kommenden Jahr fernbleiben. Die CeBIT passe nicht mehr in das neue Marketing-Konzept, heisst es aus dem deutschen Stammhaus in Böblingen.

Im August meldete die COMPUTERWOCHE, die Ergo-Gruppe wolle ein herkulisches Projekt stemmen und die IT von vier Versicherungskonzernen konsolidieren. Ende Oktober ist Feuer unter dem Dach. Mitarbeiter der Hamburg-Mannheimer, eines der vier Versicherungsunternehmen, beklagen gravierende Betriebsstörungen und fehlende Funktionen etwa für den Vertrieb. Michael Rosenberg, Konzern-CIO der Ergo-Versicherungsgruppe, räumt zwar Probleme ein, sieht sich aber mit der IT-Konsolidierung auf dem richtigen Weg.

Die Deutsche Bank denkt derweil weiter an Outsourcing: Jetzt soll auch der komplette Einkauf an einen Dritten vergeben werden. Das so genannte Procurement könnte an Accenture gehen. Beide Parteien machen keine Angaben zu den Gerüchten.

NOVEMBER

Die Suse Linux AG ist ein mittelständisches deutsches Unternehmen aus Nürnberg. Wäre sie nicht ein bedeutender Faktor im Kampf der Open-Source-Gemeinde gegen Microsoft, würde sie außerhalb der IT-Branche kaum jemand kennen. Jetzt wird sie für 210 Millionen Dollar von Suse-Chef Richard Seibt an Novell verkauft. Der ehemalige Netzwerkprimus weiß sich dabei der Unterstützung von IBM sicher, das wiederum 50 Millionen Dollar in Form von wandelbaren Vorzugsaktien in Novell investiert. Suse andererseits hat bislang den größten Teil seines Umsatzes mit Big Blue gemacht. Und alle drei zielen auf Microsoft.

Im November wagt sich ein erster Bieter um die IT-Tochter Triaton von Thyssen-Krupp aus der Deckung: Cap Gemini bestätigt, ein Angebot bei den Düsseldorfern abgegeben zu haben.

Für die Nachwelt schreiben wir, was folgt: Auf der Professional Developers Conference (PDC) in Los Angeles präsentiert Microsofts oberster Technologievordenker William H. Gates III den Prototypen eines neuen, revolutionär anderen Windows-Betriebssystems. Zugegeben, wir sind ein wenig dem Microsoft-PR-Gospel erlegen. Das gute Stück mit Codenamen "Longhorn" sei das wichtigste Software-Release dieser Dekade. Wir geben hier mal einen Tipp ab: Wenn es sich mit Longhorn verhält mit allen anderen Windows-Versionen, wird wie mit einer Markteinführung nicht vor 2007 zu rechnen sein. Gates spricht von 2006.

Just zu Halloween endete eine Ära: HP wird seine Midrange-Maschinen der "E3000"-Familie, 1972 unter der Bezeichnung "HP3000" erstmals auf den Markt gebracht, nicht mehr weiter anbieten. Die Kunden sollen auf Intel-basierende Rechner wechseln.

Ende November spitzt sich die Lage bei Daimler-Chrysler und seinem Outsourcing-Partner HP zu: Das Projekt "PC Global" ist ernsthaft gefährdet. Unternehmens-CIO Sue Unger wollte damit die Beschaffung von Desktops, Notebooks und Netzkomponenten komplett auslagern. Auch das Asset-Management und die Softwaredistribution sollten von HP erledigt werden. Doch insbesondere aus Deutschland kommt massive Kritik. Man könne, rechnen verschiedene Standorte der Geschäftsführung vor, den PC-Betrieb in Eigenregie günstiger abwickeln. Offensichtlich erfüllt HPs Wartungstruppe auch nicht die Erwartungen des Kunden Daimler-Chrysler. Sollte "PC Global" scheitern, könnte auch Ungers Stuhl wackeln.

And the winner is... heißt es jedes Jahr, wenn die COMPUTERWOCHE gemeinsam mit der Unternehmensberatung Gartner das beste IT-Projekt Deutschlands kürt. Anwender des Jahres 2003 wird die Mercur Assistance Deutschland GmbH, Tochter der Münchner Rück, mit ihrem Medizinportal. Insgesamt kämpften dieses Jahr 49 mittelständische Firmen, Behörden und Großkonzerne um die Auszeichnung. 25 Kandidaten kamen in die Zwischenauswahl, fünf wurden von der Jury in die Finalrunde gewählt. Dort fanden sich noch Audi, T-Systems, Thyssen-Krupp und Jack Wolfskin.

Systems - gar nicht so schlecht

Deutsche Anbieter auf dem ERP-Markt werden weniger. Schuld daran ist das US-amerikanische Softwarehaus Agilisys. Das hatte vor einem Jahr schon die insolvente Brain AG aufgekauft. Jetzt wollen die Amerikaner auch die Infor Business Solutions AG schlucken. Mit der Akquisition würde einer der weltweit größten ERP-Anbieter für die herstellende Industrie entstehen. Und Agilisys ist noch nicht fertig mit Deutschland: Vorstandschef Jim Schaper plant schon die nächsten Einkäufe.

Die Veranstalter der Münchner Computermesse Systems hatten schon Schlimmstes befürchtet, konnten dann aber doch wegen des - allerdings nur geringen - Besucherzuwachses ein positives Fazit melden. Anders die Comdex in Las Vegas. Nicht nur wegen des extrovertierten Charakters dieser Wüstenstadt erfreute sich die Messe weltweit großer Beliebtheit und reiste die IT-Branche gerne in den US-Bundesstaat Nevada. Die Comdex galt nach der CeBIT als wichtigster IT-Treffpunkt der Branche. Dieses Jahr ist sie nur noch ein Abklatsch früherer Zeiten. Noch vor drei Jahren pilgerten rund 220000 Besucher und 2000 Aussteller in die Spielerstadt. Heuer verlieren sich 45000 Messegäste im Convention Center, um die Produkte von 550 Ausstellern zu begutachten. Trotzdem behaupten die Messeverantwortlichen, die Erwartungen der Aussteller hätten sich erfüllt. Fragt sich nur, wie hoch die waren.

Die Chipfabrik in Frankfurt/Oder sollte nicht nur ein Renommierstück ostdeutschen Technologieaufschwungs werden, sondern auch 1200 Arbeitsplätze bringen. Beteiligt an der Betreibergesellschaft Communicant sind das Institut für Halbleiterphysik (IHP), Intel und der Staat Dubai. Intel hat 40 Millionen, Dubai 250 Millionen Dollar investiert (prüfen). Problem: Das Bundesland Brandenburg und das Bundeswirtschaftsministerium wollen keine Bürgschaft für das Projekt geben. Jetzt schiebt jeder dem anderen die Schuld in die Schuhe. Am Ende ist die stille Liquidation beschlossene Sache. Das heißt, alle finanziellen Verpflichtungen können bedient werden, übrig bleibt aber ein Rohbau, von dem niemand weiß, was aus ihm werden soll.

DEZEMBER

Im Februar hatte diese Zeitung zum ersten Mal über die Commerzbank berichtet, die mit IBM ein großes Outsourcing-Vorhaben plante. Im Juni wurden die Parameter der Zusammenarbeit festgezurrt. Jetzt ist Dezember, und die Ehe der Auslagerungswilligen ist in die Brüche gegangen. Offiziell werden wirtschaftliche und strukturelle Gründe für das Scheitern des Outsourcing-Projekts genannt. Bankintern hört man allerdings, IBM habe das ursprünglich geplante Einsparpotenzial nicht garantieren wollen.

Ganz neu gemischt werden könnten die Karten im deutschen IT-"Vorzeige"-Projekt Lkw-Maut: Bei Redaktionsschluss war die Entscheidung zwar noch nicht gefallen, ob das Bundesverkehrsministerium den Vertrag mit Toll Collect kündigen wird. Dafür meldete Benetton sein Interesse an, in das Konsortium als Gesellschafter einzusteigen. Als Besitzer der italienischen Autobahnbetreiberfirma Autostrade bietet das Modehaus auch gleich an, sein eigenes System zu benutzen. Das ist zwar nicht satellitengebunden, sondern wird über Mikrowellentechnik betrieben. Dafür scheint es zu funktionieren und wird ab dem 1. Januar 2004 auf Österreichs Straßen eingesetzt.

So stehen am Ende des Jahres zwei IT-Projekte symbolisch für ein Jahr, das gekennzeichnet war von Pleiten, Pech und Pannen. Doch halt! Es gibt zum Schluß auch gute Nachrichten aus der IT: In dem von der COMPUTERWOCHE ausgerichteten Wettbewerb "IT-Executive des Jahres" wählten eine unabhängige fünfköpfige Jury und die Redaktion unter 150 CIOs aus deutschen Unternehmen 52 Persönlichkeiten aus dem IT-Management aus, die bewiesen haben, dass IT geschäftliche Prozesse sehr positiv beeinflussen und befördern kann. Ihre Beispiele zeigen, das ein Jahr voller IT-Projekte auch anders geschrieben werden könnte.

Unter vielen brillanten Köpfen setzte sich einer als Sieger durch: Peter Sany von Novartis ist "IT-Executive des Jahres". Nicht nur harmonisierte er nach der Fusion von Ciba-Geigy und Sandoz zu Novartis die Software- und Desktop-Umgebung des Pharmaunternehmens. Nach dem Mammutprojekt wagte er es auch, ein konzernweites Grid mit 2700 PCs einzurichten. Sany bewies damit Mut zur Innovation mit einem durchaus risikobehafteten Konzept. Und so endet das Jahr mit einem Überflieger und 51 Kollegen, die vorführen, dass IT auch eine Erfolgsgeschichte sein kann.

Jan-Bernd Meyer, jbmeyer@computerwoche.de