Data-Mining-System ermittelt mögliche Stornierer und Cross-Selling-Potenzial

Allianz spürt dem Befinden der Kunden nach

21.02.2003
MÜNCHEN (qua) - IT-Projekte brauchen ein klares Anwendungsziel und müssen sich lohnen. Die Business-Intelligence-Lösung der Allianz Versicherungs AG erfüllt beide Bedingungen. Trotzdem hätte sie heute kaum Chancen auf Verwirklichung - wegen ihres Umfangs. Doch gerade deshalb gelang dem Versicherer ein "geschlossener Kreislauf".

Mit Kfz-, Hausrat- und Rechtsschutzversicherungen ist derzeit schlecht Geld zu verdienen. Für das reine Versicherungsgeschäft musste die Allianz Sachgruppe Deutschland im vergangenen Jahr schon zum dritten Mal hintereinander einen Verlust bilanzieren, so Wolfgang Heilmann, Leiter Unternehmenskommunikation. Verantwortlich dafür seien jedoch eher die - durch die Naturkatastrophen der vergangenen Jahre in die Höhe getriebenen - Versicherungsleistungen als sinkende Beiträge. Letztere hat der Sachversicherer stabil halten können - auch dank eines vor sieben Jahren in Angriff genommenen Systems zur Bestandssicherung und -ausschöpfung im Privatkundensektor.

Zeitsprung zurück ins Jahr 1996: Über mehr als 30 Monate hinweg hatte die Allianz Versicherungs AG beobachtet, wie im Privatbereich die Zahl der Kündigungen zu- und der Zuwachs bei den Neuverträgen abnahm, so dass der Bestand unter dem Strich schrumpfte. Können wir frühzeitig erkennen, welcher Kunde gerade darüber nachdenkt, seinen Vertrag zu stornieren? Diese Frage ließ Hjalmar Heinen nicht in Ruhe. Hätten die Agenturen diese Information, so schlussfolgerte der für das Privatkundengeschäft zuständige Leiter Zentrale Aufgaben, könnten sie rechtzeitig versuchen, den betreffenden Kunden zu "stabilisieren".

Damit war der Startschuss für das Projekt "Bestandssicherung" gefallen. Es zielte darauf, trennscharfe Prognosemodelle für stornierwillige Vertragsinhaber aus den Kundendaten der operativen Systeme abzuleiten. Als technische Lösung für dieses Problem fasste Heinen die Implementierung eines Data-Mining-Verfahrens ins Auge. Im September desselben Jahres begannen die IT-Experten der Allianz mit der Entwicklung eines Prototypen, der mit einem Ausschnitt aus dem Gesamtkundenbestand arbeiten sollte.

Referenzenlösungen gab es kaum. Wenn andere Unternehmen sich mit dem Thema Business Intelligence beschäftigten, nahmen sie statt der Kundenstabilisierung zunächst den Ausbau des Geschäfts in Angriff, berichtet Heinen. Er selbst bevorzugte jedoch den "defensiven Ansatz" - getreu der durch Zahlen belegbaren Binsenweisheit, dass es wesentlich weniger kostet, einen Kunden zu halten, als einen neuen zu gewinnen.

Ein Vorläufersystem auf Grundlage der Großrechnerdatenbank DB2 hatte das Versicherungsunternehmen seit 1987 im Einsatz, aber für umfassende Analysen war diese Lösung nicht ausgelegt. In einer solchen Umgebung würde eine detaillierte Abfrage über den Datenbestand 30 000 bis 50 000 Mark verschlingen, hat Heinen errechnet.

Mit der Auswertungssoftware von SAS Institute hatte die Allianz Versicherungs AG bereits gute Erfahrungen gemacht. Da es für ihr aktuelles Geschäftsproblem keine fertige Lösung zu kaufen gab, nutzten die Münchner die damals konkurrenzlosen Tools des Analysespezialisten als Basis für eine Eigenentwicklung. Konkret kommt das SAS/base-Paket inklusive Datenhaltung zum Einsatz; als Implementierungspartner fungierte die Allianz-eigene Datenverarbeitungsabteilung DVZ, unterstützt durch die Anbieter Oracle, SAS Institute und Sequent (heute IBM) sowie das Münchner Beratungs- und Serviceunternehmen MSG-Systems.

In den Merkmalen liegt der Vorteil

Die Idee der Versicherungsinformatiker bestand darin, Merkmale zu identifizieren, die einen zum Storno bereiten Kunden kennzeichnen. Die sollten in einer "Scorecard" gewichtet, die Kundendaten daraufhin abgeklopft und eine Tabelle mit der Stornowahrscheinlichkeit aller "gefährdeten" Versicherungsnehmer erstellt werden. Etwa 20 Merkmale umfasst die Scorecard. Welche das sind, hütet Heinen als Betriebsgeheimnis, denn darin liege der eigentliche Wettbewerbsvorteil begründet. Nicht einmal die Agenturen wissen, aufgrund welcher Besonderheiten ein ihnen zugeteilter Kunde das Prädikat "pflegebedürftig" erhält.

Im Laufe des Jahres 1997 funktionierte der Pilot so weit, dass sich aufgrund fachlicher Hypothesen und einer ersten Scorecard die Bestände nach kündigungswilligen Kunden durchforsten ließen. Der anschließende Abgleich zwischen Prognose und Realität gab eine positive Antwort auf Heinens Ausgangsfrage: Jawohl, es war mit ausreichend hoher Sicherheit möglich, ein drohendes Storno im Vorfeld zu erkennen.

Etwa zeitgleich hatten die Infrastrukturexperten einen Prototypen für eine Business-Intelligence-Umgebung erstellt. Und diese Struktur erwies sich "zu unserem Glück", so Heinen, von Anfang an als tragbar. Damit war der Weg frei für die operative Umsetzung und den Breiteneinsatz im Vertrieb. Im Jahr darauf erhielten die Agenturen an der Verkaufsfront erste Listen abwanderungsbereiter Kunden.

Ebenfalls 1998 begann der Sachversicherer damit, das Datenmaterial der vergangenen beiden Jahre in einem Data Warehouse zu konsolidieren, das auf zwei Unix-Servern mit Datenbanksoftware von Oracle basiert. Eigentlich hatte das Thema Data Warehouse überhaupt nicht auf der Agenda gestanden. "Wir begannen mit einer konkreten Fragestellung", bestätigt Heinen, "nicht mit der Vorgabe, ein all-umfassendes Warehouse zu bauen." Den Begriff brachte der Anbieter SAS ins Haus - und siehe da: Die zugehörige Technik war bereits installiert. In der Folge mauserte sie sich sukzessive zu einer veritablen Business-Intelligence-Plattform.

Um Medienbrüche zu verhindern, waren Schnittstellen zwischen dieser Umgebung und den von den Agenturen genutzten Vertriebssystemen zu erstellen. Auf der anderen Seite sollten die Daten aus den operativen Systemen direkt und automatisch in die Bestandssicherungs-Plattform übernommen ("propagiert") werden. Diese Integrationsarbeiten mündeten in einer "Staging Area" zwischen Mainframe und SAS-Werkzeugen; sie wurden im Lauf des Jahres 1999 abgeschlossen.

Inzwischen war auch die Allianz Leben auf die Lösung aufmerksam geworden. Die Schwestergesellschaft übernahm das Bestandssicherungs-System für ihre eigenen Zwecke und beteiligte sich an der Weiterentwicklung. Diesmal hieß das Ziel Bestandsausschöpfung, im IT-Jargon Database Marketing genannt, im Klartext: Ausloten zusätzlicher Vertriebsmöglichkeiten bei bestehenden Kunden. Der Weg dorthin war durch das Bestandssicherungssystem bereits vorgezeichnet.

So stand der Allianz Gruppe Ende 2000 ein unternehmensübergreifendes Data Warehouse mit einem erfolgreich eingeführten Bestandssicherungs- und -ausschöpfungsprogramm zur Verfügung. Es schließt den Kreislauf von den Stammdaten über die Analyse, den Vertrieb und das Kundenverhalten zurück in den Kundenbestand. Auf diese Weise lassen sich Verkaufsaktivitäten in den beiden Konzernteilen beeinflussen. Die eigentlichen Entwicklungsarbeiten sind abgeschlossen. Wie Heinen beteuert, befindet sich das System im "eingeschwungenen" Zustand. Jetzt gelte es jedoch, mindestens einmal im Jahr zu prüfen, "ob unsere Instrumente noch scharf sind", sprich: ob die gewählten Merkmale nach wie vor die Realität widerspiegeln.

Anwender des Systems sind die dezentralen Vertriebsdirektionen, die den angeschlossenen Agenturen die Hinweise auf ihre stornogefährdeten Versicherungsnehmer sowie auf Kunden mit Ausbaupotenzial direkt in die Point-of-Sales-Systeme (sprich: Laptops) übertragen. So weit Heinen das beurteilen kann, ist die Akzeptanz hier wie dort sehr hoch.

Konsistenzprüfung zunächst unterschätzt

Selbstverständlich läuft ein derartiges Projekt niemals so glatt, wie hier beschrieben. Auf die Frage, welche Fehler oder Irrwege er beim nächsten Mal vermeiden würde, fallen Heinen spontan zwei Punkte ein: Zum einen musste der Prozess "Extrahieren, Transformieren, Laden" (ETL) nachträglich um eine Stufe erweitert werden, weil die Datenmenge zu groß war, um sie innerhalb einer Nacht zu bearbeiten. Zum anderen sei ihm erst spät klar geworden, wie wichtig eine Konsistenzprüfung der Daten ist.

Der Erfolg dieser Lösung ging im Hochwasser des vergangenen Jahres ein wenig unter. Laut Heinen gelingt es der Allianz Versicherung seit der Prototyp-Installation Jahr für Jahr, die Hälfte der vom System prognostizierten Stornos zu vermeiden und die Vertragsunterzeichnungen durch die "hoch abschlussaffinen" Kunden zu verdoppeln. Wer daraufhin die Stimmigkeit der Prognose bezweifelt, muss sich eines Besseren belehren lassen. Die regelmäßig angestellten Vergleiche mit der Realität hätten eine Korrelation von 90 Prozent ergeben, versichert der Leiter Zentrale Aufgaben.

Alles in allem habe das System spätestens Ende 2001 seine Erstellungskosten - einen "niedrigen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag" - wieder eingespielt, so der Herr über 180 Systemanalysten. Wären die jüngsten Naturkatastrophen nicht gewesen, schriebe die Sachversicherung wieder schwarze Zahlen. Und Heinen lässt keinen Zweifel daran, dass in diesem Fall die Business-Intelligence-Systeme maßgeblich dazu beitrügen.

Dabei ist sich der Allianz-Manager bewusst, dass ein Projekt dieser Größenordnung heute wohl kaum umgesetzt würde: "Ich sehe eine Tendenz zu kleinen, sozusagen sicheren Projekten." Vor fünf Jahren sei es noch leichter gewesen, ein solches Vorhaben auf den Weg zu bringen: "Gott sei Dank, jetzt haben wir es." Vielleicht zahlt sich Pioniergeist ja aus!

Steckbrief

Ziel: Data Mining für Bestandssicherung und -ausschöpfung.

Umfang: Einsatz im Vertrieb der Allianz Versicherung und der Allianz Leben.

Unternehmen: Assekuranzkonzern.

Herausforderung: Business-Intelligence-Pionier.

Zeitrahmen: Gesamtentwicklung von 1996 bis 2001.

Aufwand: Erstellungskosten in niedriger zweistelliger Millionen-Euro-Höhe.

Ergebnis: Nur die Hälfte der potenziell stornogefährdeten Kundengruppe ist abgesprungen; die Zahl der Abschlüsse bei affinen Kunden hat sich verdoppelt.

Basis: Data-Mining-Software auf der Basis von SAS/base, Data-Warehouse-Software von Oracle.

Realisierung: inhouse mit Unterstützung von Oracle, SAS, Sequent und MSG-Systems.

Besonderheiten: "Closed Loop" vom Bestand über Analyse, Vertrieb und Kundenverhalten zurück in die Stammdaten.

Nächster Schritt: Ausbau des Wissens über Kundenverhalten.

Mittler zwischen IT und Fachabteilungen

Hjalmar Heinen verantwortet bei der Allianz Versicherungs AG, München, das Thema Systemanalyse. Sein offizieller Titel lautet Fachbereichsleiter Zentrale Aufgaben Privatkunden. Als solcher ist er nicht direkt in der Informationstechnik angesiedelt, sondern sieht sich selbst als Mittler zwischen IT und Fachabteilungen. Bevor Heinen zur Allianz wechselte, zeichnete er unter anderem für den Aufbau des Controllings in der Bayerischen Vereinsbank verantwortlich. Eine weitere Station seiner Karriere war die Boston Consulting Group, wo er als Consultant tätig war. Das Studium der Betriebswirtschaft absolvierte er an der Universität München und an der Univesity of Illinois at Urbana-Champaign, um anschließend an der Universität Zürich zu promovieren.