Alles klar auf der Andrea Doria

18.04.1995

Dieter Eckbauer

Der Kolumnist ertappt sich dabei, gewisse Dinge aus der Welt der Computerei ins Laecherliche ziehen zu wollen. Um Gottes willen, durchzuckt es ihn: nicht schon wieder eine Gates-Glosse. Was Microsoft angeht, so haben wir uns geschworen, vor dem 24. August keinen Kommentar mehr abzugeben. Der Verzicht ist uns nicht leichtgefallen. Was ist das Sommerloch, verglichen mit dem Warten auf Windows 95? Doch fuer Ersatz ist gesorgt. Nehmen wir die amerikanische Firma Netscape Communications. Die symbolhafte Bedeutung des Ereignisses - Netscapes Boerseneinfuehrung in New York - muss jedem, der vom schnellen Erfolg traeumt und knapp bei Kasse ist, sofort klarwerden: Wie mache ich aus weniger als Nichts das Tausendfache?

Was nicht heissen soll, dass James Clark und Marc Andreessen, die beiden Netscape-Gruender, nur bei David Copperfield abgeschaut haben. Sie vertreiben mit dem Internet-Browser Netscape Navigator eine Web-Ware, die Brancheninsider und Investoren zu Vergleichen mit Microsofts Windows anregt: Der Netscape Navigator koennte zum Schluesselprodukt in einem Milliardenmarkt werden. Und so stieg der rechnerische Wert der Internet-Company nach ihrem Boersendebuet auf die schwindelerregende Summe von annaehernd drei Milliarden Dollar - fuenf Millionen Aktien wurden ausgegeben. Den Neumillionaeren Clark und Andreessen gebuehrt eine eigene, virtuelle Gedenkminute: Wie sie wohl mit dem frischen Ruhm umgehen werden?

Vorerst muessen sie sich mit einem ganz praktischen Problem herumschlagen: Netscape macht Verlust - Kunststueck, der Navigator wird verschenkt. Das ist Marketing, wie wir es von der Vergnuegungsbranche her kennen, wo Anmacher noch unschluessige Herren mit Verzehrbons in die Etablissements hineinlocken. Das Beispiel ist im Rahmen einer satirisch angehauchten Kolumne nicht willkuerlich gewaehlt. Amerikanische Analysten fragen sich, ob Netscape jemals soviel Umsatz erzielen wird, wie das Unternehmen nach der aktuellen Boersennotierung wert ist. Die Technik der Analogie laesst sich fortsetzen, zum Beispiel so: In seinem 1974er Rockhit "Alles klar auf der Andrea Doria" wuenscht Udo Lindenberg einer bereits leicht laedierten Lady aus dem Rotlichtmilieu, dass sie "einmal so alt wird, wie sie heute schon aussieht".

Clark und Andreessen haben solches Mitgefuehl nicht noetig. Faelle wie Netscape werden in unserer Branche immer mehr das Normale. Das Boersengeschaeft wird getrieben von der Hoffnung auf Gewinnmitnahmen, die Spekulation verselbstaendigt sich. Wer kann schon beurteilen, wie der Online-Markt funktioniert und welche Rolle Netscape spielen kann? Die Fakten reichen ohnehin nicht aus, den Beweis fuer die Richtigkeit bestimmter Annahmen anzutreten. Auf einschlaegige Fragen muessen die Netscape-Manager denn auch keine Antwort geben. Ihnen wird auch so geglaubt. Aber nicht einmal darauf kommt es an, wenn eine Wishful-Thinking-Denke vorherrscht. Sollte sich Netscape nicht wie erwartet durchsetzen, werden andere in die Breschen springen, die etwas zu verschenken haben. Alles klar auf der Andrea Doria?