Alltag in Fun Factories

Alles geben, alles nehmen

22.02.2000
Von VON Gustav
Längst gibt es sie auch hierzulande: Junge Himmelsstürmer in aufstrebenden Internet-Firmen. Sie sind um die 30 und vereinzelt bereits Millionäre - durch Aktienoptionen. Zumindest aber hat ihr Unternehmen die Perspektive eines erfolgreichen Börsengangs. Neben der Chance, reich zu werden, locken die Startups mit noch etwas: Spaß im Job und damit der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung.

Tanja Biller (28) wusste genau, was sie wollte - und was nicht. Kein Großkonzern, wo alles vorgegeben ist und "wo man nichts mehr bewegen kann". Für die Diplom-Betriebswirtin und gelernte Versicherungskauffrau ist die Tätigkeit im Bereich Marketing Communication beim Münchner E-Commerce-Spezialisten Datadesign der erste Job. Und damit eine Bewährungsprobe in vielfacher Hinsicht. Denn bewegen kann man, muss man bei dem Internet-Newcomer derzeit eine Menge. Wie kaum ein anderes der am Neuen Markt gelisteten Unternehmen hat Datadesign im vergangenen Jahr Schlagzeilen produziert - negative, wohlgemerkt. Ein geschasster Firmengründer und Vorstandschef, weit hinter den Prognosen bleibende Geschäftszahlen sowie eine unter Fachleuten umstrittene Business-Strategie. Zuletzt war deshalb Großreinemachen angesagt: neues Management, neue Geschäftsfelder, neue Produkte. Zur CeBIT soll der neue Marktauftritt präsentiert werden.

Für Billers Team bedeutete dies in den zurückliegenden Monaten und Wochen Arbeit ohne Ende. Unter anderem das Briefen einer neuen PR-Agentur, die Neugestaltung von Firmenbroschüren und anderen Werbemitteln sowie die Organisation einer Roadshow mit Kooperationspartnern wie Microsoft und Compaq. "Totgesagte leben länger", gibt sich die Marketing-Spezialistin jetzt kämpferisch. Was aber nicht heißt, dass sie sich im Hinblick auf die aktuelle Situation ihrer Company Illusionen macht. Der Firmenchef, der sie im Frühjahr vergangenen Jahres eingestellt hat, ist weg; der Marketing-Vorstand, dem sie ursprünglich zuarbeiten sollte, auch. Da macht man sich schon seine Gedanken. Feste Strukturen können auch von Vorteil sein, denn sie bedeuten, dass "man Arbeitsabläufe systematisieren kann", meint die Berufseinsteigerin und deutet damit zumindest indirekt an, dass die ersten Monate doch recht chaotisch verlaufen sein müssen. Jetzt aber zieht die neue Mannschaft an

einem Strang, will es noch einmal wissen. "Wir gehen ein hohes Risiko ein", ist sich Biller aber durchaus der Tatsache bewusst, dass sich noch in diesem Jahr entscheiden dürfte, ob das Unternehmen überhaupt eine Zukunft hat.

Die neuen Millionäre

Auf den ersten Blick ist Datadesign deshalb vielleicht nicht gerade das beste Beispiel für die mittlerweile auch in Deutschland boomende Internet-Szene. Jedenfalls dann nicht, wenn man Glanz und Gloria eines perfekt inszenierten Börsengangs, eine entsprechend gute Presse sowie halbwegs ansprechende Umsatzzuwächse als Maßstäbe heranzieht. Die Namen, die in diesem Zusammenhang immer wieder fallen, sind hinlänglich bekannt: Intershop, Brokat, die schon etwas ältere Münchner Softwareschmiede Ixos - und natürlich der Shooting-Star im deutschen Telekommunikationsmarkt: Mobilcom.

Was noch wichtiger ist: Bei diesen Firmen haben es dank eines vielfach kometenhaften Anstiegs des Aktienkurses nicht nur die Gründer, sondern auch ein Teil der Mitarbeiter zu etwas gebracht. 30 Millionäre soll es inzwischen unter der Belegschaft von Intershop geben, 25 bei Mobilcom und immerhin 15 bei Ixos. Das ist zwar immer noch nichts im Vergleich zu vielen der traditionellen Silicon-Valley-Companies, aber man ist auf einem guten Weg.

Knapp drei Jahre gibt es mittlerweile den Neuen Markt, das Handelssegment für Hightech-Firmen an der Frankfurter Börse, dessen Vorbild die Nasdaq in New York war. Und mit ihm endlich Strukturen, die denen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zumindest ähnlich sind. Jungen IT-Firmen wird ein (Börsen-) Umfeld geboten, in dem sie sich Kapital zur weiteren Wachstumsfinanzierung beschaffen können. Gleichzeitig ist auch in Deutschland die Maschinerie der Risikokapitalbranche angelaufen. Gemeint sind Investoren, die fremdes Eigenkapital in viel versprechende Startups stecken und den Börsengang als Gewinn bringenden "Exit" benötigen - will heißen: die die entsprechenden Anteile nach dem erfolgreichen Going Public über kurz oder lang zum Wohl ihrer Fonds-Anleger versilbern müssen.

Vielfach wird dabei vergessen, dass die deutschen IT-Newcomer bis auf wenige Ausnahmen (Ixos und Mobilcom) noch tiefrote Zahlen schreiben und das Erreichen des Breakeven nicht absehbar ist. Dem Senkrechtstart der meisten Firmen am Neuen Markt war das jedoch bis dato nicht abträglich. Längst gibt es neben den erwähnten Stars weitere Lieblinge der Börsianer in Frankfurt, etwa den Online- und Discount-Broker Consors, das digitale Auktionshaus Ricardo.de, die Web-Agenturen Pixelpark und Kabel New Media oder die deutschen Pendants zu Amazon.com, Buecher.de und Buch.de. Viele der Gründer, Mitarbeiter und natürlich der Anleger verdienten sich dort eine goldene Nase.

Doch um die Markt- und Zukunftsfähigkeit hiesiger Internet-Firmen geht es nicht, noch nicht. Man kann es auch so formulieren: Die vielzitierte Goldgräberstimmung des Silicon Valley ist nach Deutschland übergeschwappt. Genau wie in den USA boomen auch hier die vermeintlichen Schlüsselindustrien des 21. Jahrhunderts: Biotechnologie, Telekommunikation, IT und dabei vor allem Internet, Internet, Internet. Alle einschlägigen Firmen bieten Uniabsolventen und Jungmanagern viel versprechende Perspektiven: Raum zur Selbstverwirklichung, Spaß im Job, Hoffnung auf schnellen Reichtum.

Immer wieder werden, was letzteres angeht, die berühmten kalifornischen Beispiele zitiert. Allein beim Software-Giganten Microsoft bräuchten offiziellen Angaben zufolge ein Drittel der rund 30 000 festangestellten Mitarbeiter eigentlich nicht mehr für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, sie sind zum Teil mehrfache Millionäre. Beim Netzwerkprimus Cisco Systems fallen von 19 000 Angestellten gut 2000 unter diese Kategorie. Ähnlich ist die Situation bei weiteren bekannten US-Computerfirmen wie Compaq, Dell oder EMC - und natürlich zunehmend auch bei den Glanzlichtern der US-Internet-Branche wie US-Web, Razorfish, Amazon.com, AOL, E-Bay oder E-Trade. Die Liste der Erfolgsgeschichten scheint derzeit unendlich zu sein.

Überall wurden und werden Mitarbeiter mit niedrigen Grundgehältern, dafür aber zusätzlich mit sogenannten Stock Options entlohnt. Damit erwerben sie das Recht, Anteile der eigenen Company zu einem festgelegten Vorzugspreis zu kaufen. Nach einer Haltefrist von mehreren Jahren können die Optionen in Aktien getauscht werden. Steigende Kurse vorausgesetzt, winkt den Mitarbeitern damit ein hochprofitables Geschäft - die Karriere zum Millionär, sozusagen.

Bisher hat die Entwicklung an den Börsen dieses Modell - von kurzen Einbrüchen abgesehen - diesseits wie jenseits des großen Teichs geradezu perfekt unterstützt. Seit Jahren kennen Nasdaq-Index, Dow Jones oder der Deutsche Aktienindex (DAX) im Prinzip nur eine Tendenz: aufwärts. Selbst für Mitarbeiter, die verhältnismäßig spät nach dem Börsengang in das betreffende Unternehmen eingestiegen sind, also beileibe nicht zum Gründerteam gehören, hat es sich gerechnet. Kein Wunder also, dass besagte Stock Options auch hierzulande längst als zweite Währung für die Mitarbeiter-Entlohnung Einzug gehalten haben. Anders als viele Großkonzerne wie SAP oder Siemens, die bis dato meist nur die oberen Management-Ebenen am Unternehmenserfolg teilhaben lassen, gehen jedoch viele der Newcomer-Firmen einen anderen Weg und beziehen so gut wie alle Beschäftigten ein - von der Putzfrau bis zum Vorstandsmitglied, wie Insider witzeln. Sie

alle erhalten gewissermaßen einen Blankoscheck, einen Wechsel auf die (allerdings noch unsichere) Zukunft des Unternehmens.

Kreatives Chaos als "Organisationsprinzip"

Doch die Aussicht, reich zu werden, ist es offensichtlich nicht allein, die junge Nachwuchskräfte - und nicht nur die - zu den Startups zieht. Nahezu in jedem Marktsegment der IT-Industrie wird heute händeringend nach qualifiziertem Personal gesucht. Nach IT-Spezialisten, Web-Designern, Content-Managern und Programmierern sowieso, aber auch nach gut ausgebildeten Spitzenkräften in den Bereichen Vertrieb, Marketing und Controlling. Zunehmend stechen dabei die kleinen Nobodies die großen etablierten Firmen aus. Warum? Weil das dortige kreative Chaos, die überdurchschnittliche Arbeitsbelastung und eine aufgrund der unsicheren Zukunft der Company nur bedingte Arbeitsplatzgarantie aufgewogen werden durch Parameter, die offenbar mehr zählen: flache Hierarchien, kurze Wege zu den Entscheidern sowie ein hohes Maß an Selbstverwirklichung. "Jeder, der Ideen einbringt, kann sich bei uns weiterentwickeln", schwärmt beispielsweise Ellen Heather (32), Leiterin des gesamten

Agenturbereichs beim Münchner Internet-Dienstleister Digital Advertising (DA), über ihre Company.

Heute als Projektleiter ein großes Rad drehen, morgen als einfaches Teammitglied bei einer anderen Aufgabe nur ein Rädchen im großen Getriebe sein. Nicht nur bei DA scheint dieses, wenn man es überhaupt so nennen darf, neue Organisationsprinzip zu funktionieren. Meist gibt es nur eine, oft auch gar keine Hierarchieebene. Eine Marketing- oder Vertriebs-Assistentin, die stets Zugang zum Vorstand beziehungsweise der Geschäftsleitung hat - in Deutschlands Internet-Branche ist dies eine Selbstverständlichkeit. Die Gründer und Chefs solcher Startups sind oft kaum älter als ihre Mitarbeiter und beherzigen, was jahrzehntelang nur in Lehrbüchern und Management-Seminaren gepredigt wurde: Das Fördern und Fordern offener Kommunikation.

Viele von ihnen stehen - glaubt man denen, die es wissen müssen - fast jede Woche der versammelten Mannschaft Rede und Antwort. Nicht zu Banalitäten, sondern zur Firmenstrategie, wohlgemerkt. Eine - um auf die Stock Options zurückzukommen - besondere Art der Aktionärspflege also, die oft durch ein entsprechendes Ambiente untermauert wird. Durch das Arbeiten als "Garagenfirma" in ausgebauten Dachböden oder stillgelegten Fabrikhallen sowieso, aber auch durch sonstige Extras, die den Kult der Company pflegen sollen. Bei Datadesign ist dies eine ganztägig geöffnete Cafeteria, bei Ixos eine große Wohnküche im US-Stil. Handys auf Firmenkosten, Beiträge für den Squash- oder Fitness-Club sind da kaum noch der Rede wert, gehören aber mit zu den Assets, die die Endzwanziger "anturnen", wie es im Szene-Jargon heißt.

Dafür nehmen diese die immense Arbeitsbelastung gerne in Kauf. Eine 60- oder 70-Stunden-Woche ist kein Thema, Wochenenden inklusive. Doch die Internet-Freaks wissen, worauf sie sich einlassen. Treffender als das "Manager Magazin" schon vor einigen Monaten, kann man es nicht auf den Punkt bringen: "Wo können schon Mittzwanziger Millionenetats verwalten, mit gestandenen Konzernmanagern verhandeln oder an strategischen Entscheidungen mitwirken? Und wo können frisch diplomierte BWL-Absolventen, Ingenieure und Informatiker so schnell Karriere machen?"

Letzten Endes also purer Spaß im Job, ein weitgehend intrigenfreies Arbeitsumfeld - es ist kaum zu glauben. Ist wirklich alles Gold, was glänzt? Offene Fragen, Bedenken bleiben, auch wenn man sich damit in der derzeit grassierenden Internet-Mania nicht beliebt macht. Ist es dann möglicherweise nur ein Betriebsunfall, wenn die Geschäftsidee des Unternehmens wie eine Seifenblase zerplatzt, wenn sich der Traum vom Börsengang als Luftschloss erweist? Oder vielleicht noch schlimmer: Wenn der Absturz eines Unternehmens nicht nur Gründer und Mitarbeiter, sondern auch die Anleger an der Börse mit in den Abgrund reißt? Wie gewonnen, so zerronnen? Was ist, wenn der Erfolg wie geplant eintritt, das Wachstum der Company aber zwangsläufig zu dem führt, was die Berufseinsteiger offensichtlich wie der Teufel das Weihwasser scheuen: Hierarchien, feste Organisationsstrukturen? Und was wird, last, but not least, aus den jungen Top-Verdienern, die mit 35 schon alles in Sachen

Geld und Karriere erreicht haben? Droht dann der Burnout? Die meisten Beobachter sind optimistisch und gehen davon aus, dass viele der Himmelsstürmer es dann noch einmal wissen wollen und mit ihrem Geld und ihrer Erfahrung selbst zu Gründern und Unternehmern werden. Dies jedenfalls wäre einmal mehr der zeitlich versetzte Einzug US-amerikanischer Verhältnisse in Deutschland. Der hiesigen IT-Industrie würde es sicher nicht schaden.

Spannend könnten aber auch die generellen Auswirkungen auf das Berufsleben sein. Experten wie Christian Scholz, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, stellen schon einmal die Frage, was passiert, wenn sich die "Generation dot.com" über kurz oder lang doch zum Marsch durch die Institutionen sammelt; sich also daran macht, die Großkonzerne zu erobern, die "durch das Feuer des globalen Wettbewerbs und des Business Re-Engineering gegangen sind".

Scholz prophezeit für diesen Fall beiden Seiten einen harten Lernprozess, weil "individueller Opportunismus und der Darwinismus im Geschäftsleben aufeinanderprallen". Das Spiel, das dann in der Arbeitswelt gespielt werde, hieße vor allem für die Beschäftigten "survival of the fittest". Intellektuell, sozial oder physisch Schwache würden mehr denn je aussortiert, dem Arbeitsmarkt"zur Verfügung gestellt" oder in Frührente geschickt. Die viel zitierte "Fokussierung auf die Kernkompetenz" gelte für Unternehmen wie Mitarbeiter. Überleben wird nur der, der "etwas hat, was er besser kann als andere, und für das ein entsprechender Markt vorhanden ist".

Generation dot.com

Was ist mit den Arbeitgebern von morgen? Die müssten sich, so Scholz, viel und vor allem Neues einfallen lassen, um Mitarbeiter zu gewinnen. Weniger Investitionen in eine langfristige Personalentwicklung, dafür aber um so mehr ins "Job-Entertainment" - etwa Schulungen in virtuellen Universitäten oder das Arbeiten in Projekten und multikulturellen Teams. Und das Geld? Auch bei der "Generation dot.com" spiele, wie der Betriebswirtschaftler glaubt, "der nachvollziehbare Hang zum Konsum eine Rolle". Was nichts daran ändere, dass man sich auch hier von den Mustern der Vergangenheit verabschieden müsse. Der Deal "weniger Geld heute" gegen "Arbeitsplatzsicherheit morgen" sei obsolet. Unternehmen, die versuchen, möglichst den Leistungs- anteil an der Entlohnung zu maximieren, handelten indes konsequent: "Gute Leistung heute, gutes Geld heute - schlechte Leistung morgen, game over!"

Zukunftsmusik? Warten wir es ab. Kehren wir zum Schluss zu Datadesign und Tanja Biller zurück. Gelingt, wie eingangs geschildert, ihrem Unternehmen das Comeback nicht, heißt es auch für die Marketing-Fachfrau unabhängig von ihrer Leistung: game over! Besagtes Risiko hat sie einkalkuliert, weil sonst alle übrigen Voraussetzungen stimmen. Insofern ist die Münchner Internet-Company vermutlich doch nicht das schlechteste Beispiel. "Ich habe keine Stelle, sondern ein Aufgabe gesucht, bei der ich mich am Anfang meiner Karriere beweisen kann", meint Biller. Und noch etwas: "Ich gebe alles für den Erfolg und nehme im Zweifel alles - natürlich auch Stock Options". Scheitert sie, weil das Unternehmen Schiffbruch erleidet, heißt es für sie dann hoffentlich nicht game over, sondern neues Spiel!

*Gustav Herrlich ist freier Journalist in München.