Business Process Management

Adaptives Prozessmanagement

27.01.2012
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.

Modellierung von adaptiven Prozessen

Die Grundidee des normativen BPM besteht darin, dass ein Prozess eine vorab definierte sequenzielle Folge von Aktivitäten bildet. Alle Übergänge ("Transitionen") zwischen den Aktivitäten sind ebenfalls a priori festgelegt. Automatisch ausführbare Geschäftsregeln bestimmen die Abläufe, menschliche Interaktion wird umgesetzt, indem die Prozessbeteiligten durch Einträge in Arbeitslisten Aufgaben erhalten. Alle denkbaren Varianten des Prozesses sind durch Weichen ("BPMN Gateways") vorgegeben. Es ist unmöglich, einen anderen Weg zu gehen, als er im Gesamtprozessmodell vorgegeben ist.

In adaptiven Prozessen haben die Teilnehmer mehr Freiheiten -wenngleich in einem mehr oder weniger eng gesteckten Rahmen. Auch hier werden Aktivitäten vorgegeben, jedoch mit der Option, adaptiv weitere Arbeitsschritte einbauen zu können. Auch die Transitionen zwischen den Aktivitäten werden nicht fest ausmodelliert. Sie geschehen zur Laufzeit durch die Entscheidung, die der am Prozess teilnehmende Mensch trifft. Gegebenenfalls wird er dabei durch Regeln, deklariert als Vorbedingungen, unterstützt. Diese Regeln schlagen dem Benutzer eine Liste der im gegenwärtigen Kontext denkbaren Aktivitäten und Werkzeuge vor.

Adaptive Prozesse befinden sich in einem permanenten Zustand des Lernens und Weiterentwickelns. Das unterscheidet sie von Ad-hoc- oder dynamischen Prozessen. Letztere lassen dem Benutzer große Freiheiten - durch die willkürliche Ausführung ohne eine vorgegebene Reihenfolge. Ihr Nachteil: Sie haben keine eingebauten Möglichkeiten für eine Optimierung über Prozesserfahrung zu bieten. Adaptive Prozesse hingegen räumen dem Wissensarbeiter die Möglichkeit ein, situationsgetrieben weitere Prozessschritte zu definieren. Dies hilft ihm, die Wissensbasis zu erweitern und damit nachhaltig Mehrwert zu generieren. So wird eine permanente Annäherung (Adaption) an die Realität erreicht.

Design by doing

Trotz aller Freiheiten wird der Weg, den die Prozessbeteiligten gegangen sind, protokolliert - als Basis für die permanente Ablaufoptimierung durch Fachseite und IT. Festzuhalten und regelmäßig auszuwerten sind insbesondere Verbesserungsvorschläge. Diese Vorgehensweise wird als "Model afterwards" oder "Design by doing" bezeichnet. Der eigentliche Prozesslauf ergibt sich nachträglich aus der Vielzahl konkret abgelaufener Instanzen.

Eine Möglichkeit für das Modellieren adaptiver Prozesse ist der Einsatz von Ontologien. Eine Ontologie beschreibt die Beziehungen, die Aktivitäten zueinander haben. Sie tut das semantisch im Rahmen einer Aktivitätenontologie. Derartige Beziehungstypen drücken aus, ob jeweils eine Aktivität zuvor durchlaufen sein muss oder kann. Durch die Ontologie kann festgelegt sein, dass nach einer bestimmten Aktivität immer eine Folgeaktivität ausgeführt werden muss.

Trotzdem werden diese Aktivitäten nicht aufgrund eines Prozessmodells automatisch zu vorher definierten Zeitpunkten und Orten im Prozessbild abgearbeitet. Vielmehr stehen alle Aktivitäten dem Benutzer als Angebote zur Verfügung. Er entscheidet, ob und wann er davon Gebrauch macht. So wird es möglich, die regulatorischen Richtlinien einer Unternehmung abzubilden und gleichzeitig dem Benutzer ein größtmögliches Maß an Freiheit zu gewähren.

Benutzerführung und Oberflächen

Typische Benutzeroberflächen im BPM-Umfeld bestehen aus Arbeitslisten, in denen die Benutzer ihre von Prozessen zugeordneten Aufgaben finden. Hier sind oft auch kleine Masken zur Dateneingabe in den einzelnen Aufgaben hinterlegt, die dann in einem generischen User-Interface-Bereich angezeigt werden.

Hingegen stellen Benutzeroberflächen für adaptive Prozesse dem Wissensarbeiter eine flexiblere IT-Unterstützung zur Seite. Hier kommen zwar auch Arbeitslisten vor, im Fokus steht aber nicht die Abarbeitung eines kleinen Mikroschrittes in einem großen Prozessablauf, sondern die komplette Tätigkeit.

Deshalb haben wir es hier eher mit einer portalartigen Oberfläche zu tun, die eine aggregierte Gesamtsicht auf den Fall darstellt. Beispielweise sind dort alle zugeordneten Stammdaten, Historien und bisherigen Geschäftsvorfälle zu finden.

Geht es um ein Patientensystem, so betrifft das die gesamte Krankenhistorie, alle hinterlegten Untersuchungen, Röntgenbilder etc. Der Zugriff auf unstrukturierte Daten, etwa auf ein Dokumenten-Management-System, ist also ein wichtiges Feature der Oberfläche. Aber auch soziale und kollaborative Eigenschaften und allgemein alle Aktivitäten, die im Kontext sinnvoll sein können, sollten jederzeit zur Verfügung stehen. Oft wird eine Unterteilung in laufende, abgeschlossene und in Zukunft mögliche Aktivitäten dargestellt - erweitert um die Möglichkeit, adaptiv neue Aktivitäten an den Fall anzuhängen, die bisher nicht vorgedacht waren.

Unsere heutigen Wissensarbeiter benötigen optimale Unterstützung durch Softwaresysteme. Sie brauchen Flexibilität und Entscheidungsfreiheit, um ihr Wissen im Sinne des Unternehmens bestmöglich und ohne unnötige Schranken einsetzen zu können. Die IT hat die Aufgabe, ihnen das zu ermöglichen. Allerdings gibt es noch kaum Standardsoftware, die das komplett leistet. (hv)