Deutsche Post

80 Partner - ein Modell

12.02.2014
Von 
Eduard Rüsing ist Fachjournalist aus Karlsruhe.
Wie das Elektroauto "StreetScooter" kollaborativ zur Serienreife entwickelt wurde.

Wie lässt sich in kurzer Zeit und zu möglichst geringen Kosten ein Elektroauto bis zur Serienreife entwickeln? Diese Frage konkretisierten Günther Schuh und Achim Kampker, Professoren an der RWTH Aachen, folgendermaßen: Wie muss eine Entwicklungs- und Systemumgebung inklusive der anschließenden Produktion aussehen, damit sich aus diesem Prototypen kundenspezifische Derivate relativ einfach, schnell und billig ableiten lassen? Das Ergebnis ihrer Überlegungen ist ein Struktur- und Entwicklungskonzept, mit dem bis zu 80 Partner in etwa der Hälfte der üblichen Zeit und zu einem Zehntel der Standardkosten das erste serienreife Modell des Elektroautos StreetScooter entwickelten.

Der StreetScooter wurde konzipiert, um eine Effizienzlücke der urbanen Verkehrsumgebung zu schließen. Die Rahmenbedingungen waren: kurze Fahrzeiten mit häufigem Stop-and-Go, begrenzte Reichweite von zirka 120 Kilometern, niedrige Höchstgeschwindigkeit, hohe Schadstoffauflagen etc. Hier arbeitet der elektrisch betriebene "Straßenroller" günstiger als Autos mit Verbrennungsmotoren. Das erste serienreife Modell ist für die Postauslieferungen bestimmt. Es befindet sich in der Testphase.

Halbe Zeit, ein Zehntel der Kosten

Wie Kampker, Inhaber des Lehrstuhls für Produktionsmanagement am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH und gleichzeitig Geschäftsführer der StreetScooter GmbH, erläutert, lief der Technologieansatz nicht einfach auf einen Austausch des Antriebsstrangs hinaus. Sondern auf ein völlig neues Auto: "Es wurde, auf das Wesentliche reduziert, um die Batterie herumgebaut."

Dabei sollte gespart werden - aber nicht auf Kosten der Qualität. Also waren Ideen gefragt. Die Struktur des StreetScooter basiert auf einem Baukastenprinzip: Die modulare Produktarchitektur soll sicherstellen, dass sich das Elektroauto für die Stadt immer wieder erneuern und rekonfigurieren lässt.

Konsequent modular

Bei der Entwicklung wurde das Fahrzeug in neun Lead Engineering Groups (LEGs)eingeteilt, so etwa für Karosserie, Thermo-Management, Antriebsstrang, Batterieentwicklung, Bordnetz und nicht zuletzt Gesamtfahrzeug. Für diese Kompetenzfelder wurden dann erfahrene Partnerunternehmen angeworben.

Produkt und Prozesse sollten möglichst parallel und komplett für den gesamten Lebenszyklus entwickelt werden. Die beteiliegten Zulieferer arbeiten in einem Netzwerk, das keine eigentliche zentrale Steuerung hat. Für das Kommunikations-Management der Daten und Prozesse wurde der hierzulande in Sindelfingen ansässige Softwareanbieter PTC mit seiner PLM-Plattform "Windchill" und dem CAD-System "Creo" ins Boot geholt. Im Projekt wird die PTC-Software unter anderem für folgende Aufgaben genutzt:

  • Erstellen des Basiskonzepts, also der modularen Produktarchitektur;

  • reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Partnerunternehmen (neudeutsch: Collaboration);

  • Produktanalysen im Vorfeld (CO2-Ausstoß, Umweltschutz, Gewicht und Kosten);

  • Fertigungsprozess-Management;

  • Service-Lifecycle-Management (SLM).

Um die kundenspezifischen Derivate entwickeln zu können, war eine Voraussetzung entscheidend: die Erstellung von "konsistenten, mathematisch eindeutigen Modellen", wie Kampker erläutert. Das habe außer PTC kein Anbieter garantieren können. Zudem fungiere das zentrale Windchill-Repository als "Single Source of Truth" und stelle damit sicher, dass es nur eine "Datentonne" gibt, die den jeweils gültigen Stand der Bauteile abbildet, egal, ob sie sich in Entwicklung, Produktion oder Service befinden. So lassen sich Versions- und Geometriekonflikte vermeiden. Zudem ist diese Eindeutigkeit die Basis für ein effizientes Versions- und Change-Management.

Geschützte Collaboration

Als Mitglied der LEG Gesamtfahrzeug war PTC in der Pflicht, eine Infrastruktur aufzusetzen, um alle Partner mit ihren Systemen zu integrieren. Dazu gehören beispielsweise NX, SolidWorks, Catia oder auch das eigene Produkt Creo. Innerhalb der Windchill-Umgebung und mit Hilfe der Multi-CAD-Werkzeuge von Creo wurden die unterschiedlichen Systeme konsolidiert.

Es folgte die Einbindung der Partner in die Entwicklungsprozesse ihrer jeweiligen LEG. Jeder erhielt seinen sicheren Arbeitsbereich und die gesamte LEG ihren Projektraum. Um sich gegen Ideenklau und Datenmanipulation zu schützen, kommunizierten die Teams via VPN.

Anschließend wurde die gesamte Struktur in den Kontext einer modularen Produktarchitektur überführt. "Das war ein Meilenstein, denn das versetzte uns in die Lage, sehr schnell neue Fahrzeugvarianten ableiten zu können", sagt Markus Hannen, Technischer Direktor bei PTC.

Der erste Prototyp, das dreisitzige Modell "Compact", war nach einem Jahr fertig und wurde auf der IAA 2011 in Frankfurt am Main gezeigt. Wenig später kam die Anfrage der Deutschen Post. Gemäß den Anforderungen an ein Nutzfahrzeug wurde die Modularchitektur nun um eine neue Plattformarchitektur erweitert. Für die Produktion der Testfahrzeuge wurden die Fertigungsprozesse nach demselben Strukturprinzip in Windchill integriert.

Wie Hannen erläutert, basiert die gesamte Zulieferumgebung auf dem Konzept, dass die Struktur der Träger aller relevanten Informationen ist: "In einer Art modularer Wissenssynthese wird das integrale Basiswissen über das Produkt bereitgestellt." Daraus könne das Windchill-Analytics-Tool dann Produktanalysen wie Kos-tenstrukturen und Energiebilanzen oder auch die Erfüllung von Compliance-Regeln ableiten.

Dank dieser Struktur lasse sich auch das Ausscheiden eines Zulieferers und/oder die Aufnahme eines neuen relativ einfach ausbalancieren sowie hinsichtlich der Auswirkungen (Kosten und Compliance) beurteilen. Last, but not least sei es möglich, die parallel verlaufenden Kreativprozesse relativ weit vorn im Entwicklungsprozess zusammenzuführen, ergänzt Hannen: "Ein funktionsfähiges Produkt kann an einem beliebigen Zeitpunkt abgeleitet werden, während das generische Produkt kontinuierlich weiterentwickelt wird."

Das Service-Lifecycle-Management

Im nächsten Schritt soll das SLM-Modul mit Montageanleitungen, Handbüchern, aber auch der Rückkopplung von etwaigen Qualitätsproblemen integriert werden. Die direkte Rückführung der Schadensdaten (Closed Loop of Quality) kann bei der Optimierung des Fahrzeugs helfen und die Kundenzufriedenheit heben.

Ein Beispiel, wie das schon im ersten Modellentwurf funktioniert hat, ist die dreigeteilte Stoßstange des StreetScooter: Wegen der im Stadtverkehr häufigen Rangiermanöver sind die Ecken der Stoßstangen anfällig für Kollisionen. Kommt es zu einem Schaden, lässt sich nur das betroffene Stoßstangendrittel auswechseln.

Status quo ist ein Modell in Vorserie, das 2014 in einer Größenordnung von 3000 Stück im Jahr in Serie gehen soll. Parallel dazu werden zwei Derivate in die Vorserie geführt: das dreisitzige Modell Compact und das "Pedelec", ein E-Bike, bei dem ebenfalls die Anforderungen der Post Pate standen.

Im Moment werden die Modelle nur an Flottenkunden abgegeben. Das kann sich aber schnell ändern, wenn ein Partner für den Vertrieb im Flächenmarkt gefunden wird, sagt Kampker: "Den Aufbau von Vertriebsstrukturen für den Privatkunden wollen wir in der StreetScooter GmbH aber nicht mehr stemmen." (qua)