Social Collaboration

5 Lehren für Chefs aus der Dresdner Flut

11.10.2013
Von 
Andreas Stiehler ist Principal Analyst bei Pierre Audoin Consultants (PAC).
Die Dresdner Bürger haben in nur wenigen Stunden über Dienste wie Twitter und Facebook ein effizientes Hilfsnetzwerk aufgebaut. Soziale Vernetzung ist hierarchischer Zusammenarbeit oft überlegen, erläutert PAC-Analyst Andreas Stiehler in seiner Kolumne.
Andreas Stiehler ist Principal Analyst bei Pierre Audoin Consultants (PAC).
Andreas Stiehler ist Principal Analyst bei Pierre Audoin Consultants (PAC).
Foto: PAC

"Eine Stadt packt an!" - Der Spiegel hat es treffend ausgedrückt: Tausende freiwillige Helfer - darunter viel junge Leute, ausgerüstet mit Stiefeln, Schaufeln und Smartphone - sind ausgezogen, um ihre Stadt gegen die Flut zu schützen. Und die Organisation dieses komplexen Hilfsvorhabens, das sich fast minütlich auf neue Situationen einstellen muss - Dammbruch hier, fehlender Sand da, Bedarf an Regenhosen dort - klappt nahezu perfekt. Social Collaboration macht es möglich.

So haben es die Dresdner in nur wenigen Stunden geschafft, über Dienste wie Twitter und Facebook ein effizientes Hilfsnetzwerk aufzubauen. Über Twitter laufen rund um die Uhr akute Hilferufe, Pegelstände und Aufrufe zum "Anpacken" ein. Auf Facebook-Sites wie "Fluthilfe Dresden" werden Hilfsgesuche und -angebote gesammelt und zugeordnet. Und ganz findige Dresdner haben noch eine interaktive Google Map aufgebaut, auf der zeitnah aktuelle Anfragen und Angebote grafisch zugeordnet werden.

Auf diese Weise werden ganze Heerscharen von Sandsackbefüllern, Dammbauern und Möbeltransporteuren koordiniert und es wird dafür gesorgt, dass die Hilfsangebote von belegten Brötchen über Schaufeln bis zu wasserfester Kleidung dorthin gelangen, wo sie benötigt werden. Und all dies gelingt ohne die zentrale Steuerung durch irgendeine Behörde. "Die Bürger packen es selbst an", könnte der Spiegel-Artikel noch besser lauten.

Zentrale Einsatzleitung in Dresden nicht flexibel

Szenenwechsel: "Hessische Einsatzkräfte in Dresden gefrustet", meldete nh24.de in einem Artikel, der am Vortag erschien. Hierin heißt es: "900 meist freiwillige Helfer von Feuerwehr und Rettungsdienstorganisationen des hessischen Katastrophenschutzes sind auf Anforderung des Sächsischen Innenministeriums […] in Dresden untergebracht und ‚drehen Däumchen’". Sie warteten auf den Einsatzbefehl der zentralen Einsatzleitung, die die Rettungstruppen nicht flexibel genug organisieren konnte. Denn dort, wo der Einsatz der Rettungstruppen ursprünglich geplant wurde, war die Lage noch nicht bedrohlich. Die anschließenden Kommentare zur Effektivität der zentralen Hochwasserplanung sprechen für sich.

Die Bürger in Dresden liefern in diesen Tagen den perfekten Anschauungsunterricht für Social Collaboration in der Praxis. Die Lehren aus Dresden lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen:

1. Unternehmen kommen dauerhaft nicht um Social Collaboration herum

Hochwasserhilfe in Dresden
Hochwasserhilfe in Dresden
Foto: Google maps

Der Fall "Fluthilfe Dresden" belegt: Wenn komplexe Probleme zu lösen sind, eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit erforderlich ist und alle Beteiligten ein klares Ziel haben, dann ist die soziale Vernetzung herkömmlichen hierarchischen Formen der Zusammenarbeit deutlich überlegen.

Sicher: Social-Collaboration-Initiativen werden herkömmliche Formen der Zusammenarbeit, in denen die Rollen verteilt und die Prozesse klar definiert sind, nur ergänzen - nicht ablösen. So werden gut organisierte Rettungseinheiten auch in Dresden dringend benötigt. Aber durch die Kombination von herkömmlichen und sozialen Methoden der Zusammenarbeit kann die Agilität und Innovationsfähigkeit der Unternehmen genauso wie die Effizienz der Abläufe deutlich gesteigert werden.

2. Social Collaboration erfordert Vertrauen und die Bereitschaft, Veränderungen in der Kultur zuzulassen

Die Dresdner Bürger haben die Koordination der Freiwilligen selbst in die Hand genommen und nicht auf zentrale Stellen gewartet. Und sie haben gut daran getan. Diese Rolle hätten sicher gerne auch die Behörden übernommen. Aber letztlich hat sich die für das gemeinsame Ziel beste Lösung durchgesetzt.

"Loslassen" müssen auch Unternehmenslenker, die Social-Collaboration-Initiativen erfolgreich umsetzen wollen - auch wenn das Ergebnis nicht der bisherigen Führungskultur entspricht. Insbesondere sollten sie nicht versuchen, von vornherein die perfekte Lösung zu planen. Deutsche Präzision ist hier fehl am Platz. Loslassen heißt aber nicht "alleine lassen". Der Bedarf an Verbesserungen genauso wie an Regeln entwickelt sich über die Zeit und muss adressiert werden. So wurden auch in Dresden die Koordinationsangebote über Social Media Schritt für Schritt nachgebessert.

3. Wer Social-Collaboration-Initiativen im Unternehmen alternativlos unterbindet, beraubt sich der Zukunft

Hochwasserhilfe Dresden
Hochwasserhilfe Dresden
Foto: Google Maps

Unternehmenslenker aufgepasst: Die jungen Dresdner, die heute mit Gummistiefeln, Schaufeln und Smartphones ihre Stadt schützen, klopfen morgen vielleicht mit der Bewerbungsmappe an der Tür Ihres Unternehmens an. Sie haben gelernt, wie man komplexe Probleme mit Hilfe von Social Collaboration lösen kann. Und sie sind hochmotiviert, zur Lösung von Problemen beizutragen. Was bieten Sie denen an?

Die Ergebnisse unserer gerade veröffentlichten Studie zu "Social Collaboration in Deutschland, Frankreich und Großbritannien - Perspektive der Fachbereiche" stimmen vor diesem Hintergrund eher pessimistisch. Social-Collaboration-Initiativen? In jedem zweiten deutschen Unternehmen bislang Fehlanzeige. Gerade einmal in jedem fünften Unternehmen wurden solche Initiativen zumindest teilweise umgesetzt.

Immerhin: In jedem dritten Fachbereich werden erste Pilotprojekte gestartet oder Social-Collaboration-Initiativen geplant. Das stimmt zuversichtlich. Nur werden sich die jungen Dresdner nicht mit jahrelangen Planungs- und Testphasen zufrieden geben. Sie werden sich entweder weitsichtigere Unternehmen suchen oder an Management und IT vorbei selbst Netzwerke aufbauen - Sicherheitsrisiken hin oder her.

4. Verbote sind keine Lösungen, Alternativen müssen geschaffen werden

Tatsächlich erwiesen sich in unserer Studie die in Deutschland überdurchschnittlich ausgeprägten Sicherheitsbedenken als die wichtigsten Hinderungsgründe für Social Collaboration. Solche Bedenken mögen auch ein Grund dafür sein, dass 16 Prozent der Fachbereiche die geschäftliche Nutzung öffentlicher Netzwerkdienste wie XING oder Linked-In, die für den professionellen Gebrauch konzipiert wurden, untersagen. Microblogging-Dienste wie Twitter dürfen in 32 Prozent der Fachbereiche nicht beruflich genutzt werden.

Unabhängig vom (Un-)Sinn solcher Verbote: Wenn keine gleichwertigen oder besseren Alternativen geboten werden, lassen Verbote sich ohnehin nicht durchsetzen. Zu süß ist die Verlockung der sozialen Vernetzung - insbesondere dann, wenn man wie die Dresdner schon einmal die Früchte gekostet hat. Die interne IT sollte deshalb besser vorangehen und Alternativen schaffen.

Anders als vielfach behauptet ist sie gegenüber öffentlichen Networkingdiensten durchaus konkurrenzfähig: Denn sie kann eigene Netzwerkdienste mit anderen Kommunikations- oder Businessanwendungen integrieren und so die Usability wesentlich erhöhen.

5. Social Marketing und Customer Services erfordern ein "Social Enterprise"

Unternehmenslenker sollten sich abschließend noch die Frage stellen, wie sie die Generation "Junge Dresdner Fluthelfer" als Kunden gewinnen können? Sie starten Social-Media-Initiativen und bieten die Kundeninteraktion über Chat, Twitter oder Facebook an. Gut so… aber nicht gut genug.

Man stelle sich nur vor, einer dieser jungen Wilden kontaktiert das Contact Center über eine dieser modernen Medien und möchte eine Auskunft. Aber diese Information liegt wie so oft "irgendwo im Unternehmen", ist also für den Agenten nicht ohne weiteres verfügbar. Wird er sich wirklich mit der Aussage "Wir melden uns dann in drei bis zehn Tagen wieder bei Ihnen" zufrieden geben? Oder wird er sich frustriert abwenden, da er selbst erfahren hat, wie es schneller geht und ihm hier das "Social" nur vorgegaukelt wird.

Unternehmen müssen als Social Enterprise agieren

Fakt ist: Jede Social-Media-Initiative ist vergebliche Mühe, wenn das Unternehmen nicht als "Social Enterprise" agiert. Und hierzu bedarf es Social Collaboration.

Liebe Unternehmenslenker, Sie sollten den Dresdner Bürgern für diese Erfahrung dankbar sein. Denn wenn Sie die Lehren aus der Organisation der Fluthilfe beachten, sparen Sie viel Mühe und bares Geld. Gespartes Geld bitte an die Fluthilfe spenden.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag der CW-Schwesterpublikation CIO.de. (mhr)