Biometrie - Ende der Anonymität?

Wie Gesichtserkennung unser Leben verändert

Kommentar  14.12.2016
Von 
Holger Suhl ist General Manager DACH bei Kaspersky Lab.
Der Grat zwischen Freiheit und Sicherheit ist von jeher ebenso schmal wie gefährlich. Und er muss stetig neu markiert werden - auch und gerade in freiheitlichen Demokratien wie in Deutschland.

Je nach Sicherheitslage schlägt dabei das Pendel der öffentlichen Diskussion mal in die eine, mal in die andere Richtung aus. So haben der Münchner Amoklauf und die Terroranschläge, die Deutschland im Sommer 2016 verkraften musste, die Debatte über die Erfassung biometrischer Daten neu angeheizt. In diesem Zusammenhang forderte Bundesinnenminister Thomas de Maizière auch den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware an Bahnhöfen und Flughäfen. Würden die Bilder der dort ohnehin bereits installierten Videokameras mit entsprechender Technik gekoppelt, könnten Verdächtige schneller ausgemacht werden.

Das mag sein, doch blieb bislang offen, wessen Gesichter eigentlich auf dieser neuen visuellen Fahndungsliste stehen sollen: Sogenannte Gefährder, bekannte Kriminelle oder bloß Verdächtige? Umgehend stieß der Vorschlag nicht nur bei der Opposition, sondern auch bei Datenschützern von Bund und Ländern auf Kritik. Für sie ist jede Form einer automatisierten, biometrischen Datenerhebung ein schwerwiegender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil niemand einer derartigen Überwachung ausweichen kann. Das Bundesverfassungsgericht, die neue europäische Datenschutzverordnung und der Europäische Gerichtshof sehen das ähnlich.

Dabei ist das Gesicht mit seiner Mimik die wohl sensibelste Ausprägung des menschlichen Körpers und bildet zugleich die Basis für unser zwischenmenschliches Verhalten. Die Wiedererkennung und Unterscheidung von Gesichtern gehört zu den frühesten Fähigkeiten, die Neugeborene entwickeln. Und noch als Erwachsene erkennen wir oft nur an der Mimik unseres Gegenübers dessen wahre Gemütslage.

Wie sehr könnte der Einsatz von Software zur Gesichtserkennung unseren Alltag verändern? Wo wird sie bereits angewendet? Wie gut ist die Technik entwickelt? Und: Kann sie auch überlistet werden? Wo liegen ihre Vorteile, wo ihre Nachteile?

Biometrie: Verbrecherjagd, Zahlungssicherheit, Flirthilfe

Der Vorschlag von Thomas de Maizière ist nicht neu. Bereits 2007 wurde unter der Regie des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble am Hauptbahnhof in Mainz mit 200 freiwilligen Pendlern die automatische Wiedererkennung von Personen über Kamerabilder getestet. Damals empfahl das Bundeskriminalamt, wegen der geringen Trefferquote auf den Einsatz derartiger Software lieber zu verzichten.

Bis heute basieren die Verfahren zur Gesichtserkennung im Wesentlichen auf der Anordnung von Augen, Augenbrauen, Wagenknochen, Nase und Mund, sowie der Beschaffenheit der Haut. Neu ist, dass auch große Konzerne und Soziale Netzwerke an entsprechenden Gesichtserkennungs-Programmen arbeiten oder diese bereits anwenden: Microsoft mit FamilyNotes, Facebook und Google, die dafür Klagen einheimsten, aber auch Unternehmen wie Mastercard. Das Kreditkarten-Unternehmen hat 2016 in Barcelona auf dem Mobile World Congress ein Identifizierungssystem mit Hilfe von Selfies vorgestellt, das angeblich von keinem Foto überlistet werden kann.

Und weit über Russland hinaus sorgte in diesem Sommer die App FindFace für Furore. Die als "Flirthilfe" titulierte Anwendung macht an Hand eines Fotos Personen in Russlands größtem sozialen Netzwerk VKontakte ausfindig, das 300 Millionen Profilbilder enthält. Mit Erfolg: Die Software schlug bei einem Wettbewerb der amerikanischen University of Washington in Teilaspekten nicht nur die Gesichtserkennung von Google, sondern hat ihre Praxistauglichkeit auch im Rahmen eines Foto-Projekts in St. Petersburg bewiesen.

Kein Wunder, dass die Moskauer Polizeibehörden großes Interesse an der Software der Firma N-TechLAB zeigen. In der Stadt warten 150.000 Überwachungskameras nur darauf, bestimmte Zielpersonen in der Menschenmenge ausfindig machen zu können. Ohnehin sei die Flirt-App nur ein Nebenprodukt der eigentlich für Sicherheitsbehörden entwickelten Gesichtserkennungssoftware, sagt FindFace-Miterfinder Alexander Kabalkow. Er spricht bereits davon, dass mit seiner App das Ende der Anonymität im öffentlichen Raum erreicht sei und würde die Software gerne in jeder Überwachungskamera dieser Welt sehen. Tatsächlich ist vor FindFace niemand wirklich sicher: So wurde die App in Russland bereits erfolgreich von selbsternannten Sittenwächtern dazu genutzt, online Jagd auf eine Pornodarstellerin zu machen. Auch andere Fälle von Selbstjustiz sind bekannt.

Von Edward Snowden mussten wir 2014 erfahren, dass der US-Geheimdienst NSA täglich Millionen von Fotos aus dem Internet abfängt und sie mit Gesichtserkennungssoftware überprüft. Auch bei der US-Bundespolizei FBI gibt es eine Abteilung mit dem Namen FACE (Facial Analysis, Comparison and Evaluation Services). Bei einer Prüfung im Mai 2016 durch das Government Accountability Office der Vereinigten Staaten stellte sich heraus, dass auf den 412 Millionen Fotos in der FBI-Datenbank auch Personen zu sehen sind, die noch nie in einem Zivil- oder Strafverfahren als Beschuldigte aufgetreten sind. Rund 100 Millionen Fotos stammen von Ausländern. Wie kommt das FBI an diese Aufnahmen? Nun, es gab offenbar Vereinbarungen mit mehreren Staaten, dem FBI nicht nur Bilder von Verdächtigen und Verurteilten, sondern auch Fotos von Führerscheinen, Pässen und Visaanträgen zu überlassen.

Lässt sich Gesichtserkennung umgehen?

Die Antwort lautet: Ja. Dazu kann schon ein Blinzeln genügen. Eigentlich eine sinnvolle Schutzmaßnahme der Programme, um Gesichter echter Personen von bloßen bildlichen Darstellungen zu unterscheiden. Wie sich herausstellte, hielt Jelly Beans von Google dem Blinzel-Liveness-Test nicht stand und konnte mit Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen überlistet werden. Außerdem kämpfen die Entwickler von Identifizierungssystemen gegen die Fortschritte auf dem Gebiet des 3D-Drucks: Mit so einem Gerät lassen sich inzwischen sehr realistisch aussehende Gesichtsmasken herstellen.

Biometrische Methoden zur Authentifizierung von Personen werden auch von Hackern und Cyberkriminellen auf Schwachstellen abgeklopft. Laut den Experten von Kaspersky Lab existieren im Darknet (Stand September 2016) mindestens drei Anbieter von Geräten, die illegal Daten von Handvenen- und Iriserkennungssystemen sammeln können. Zudem wird im Untergrund die Entwicklung mobiler Applikationen diskutiert, mit denen Masken über menschliche Gesichter gelegt werden können. Mit einer solchen App könnten Hacker, beispielsweise mit Profilfotos aus sozialen Netzwerken, die Gesichtserkennungssoftware überlisten. Das Thema Identitätsdiebstahl bekommt so eine ganz neue und gefährliche Dimension.

Software zur Gesichtserkennung: Die Technologie hat ihre Vorteile - aber auch Schwachstellen.
Software zur Gesichtserkennung: Die Technologie hat ihre Vorteile - aber auch Schwachstellen.
Foto: Gajus - shutterstock.com

Man kann sich also ein Stück weit der Überwachung entziehen. Wie das geht? Prominente machen es vor: Sie ziehen einen Kapuzenpulli über, setzen eine Sonnenbrille auf und schon werden sie in der Öffentlichkeit nicht mehr erkannt. Gegen allzu viel Transparenz helfen auch ein asymmetrischer Haarschnitt oder exzentrisches Make-up. Ein britisches Unternehmen bietet inzwischen sogar eine spezielle "Tarnkappen"-Kollektion an, ein japanisches Forschungsinstitut hat hingegen eine "Privacy-Visor"-Brille entwickelt.

Doch wie so häufig sind die Menschen selbst ihre ärgsten Feinde. So sammelt etwa die Website Anaface fleißig Fotos, um sie auf den Grad ihrer Attraktivität hin zu untersuchen. Abgesehen davon, dass bei der Bewertung der Anziehungskraft alleine die Symmetrie eine Rolle spielt, geben dort unbedarfte Neugierige "ihr Gesicht" unter haarsträubenden Geschäftsbedingungen ab. So darf Anaface die Bilder jederzeit weiterverkaufen, außerdem besteht derzeit keine Möglichkeit, einmal hochgeladene Bilder wieder zu entfernen.

Gesichtserkennungssoftware: Wo liegen die Vorteile?

Jeder Staat hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, seine Bürger vor Verbrechen zu schützen. Auch sollte jedes Land "wissen", wer sich dort gerade aufhält. Gesichtserkennung kann hierzu ein probates Mittel (von vielen) sein. Umgekehrt sollte nicht jeder Bürger - wie im Fall von FindFace - über nahezu dieselben Möglichkeiten verfügen können wie staatliche Sicherheitsbehörden. Entscheidend sind also immer die rechtlichen Grundlagen, auf denen die Anwendung biometrischer Verfahren basiert. In einem Rechtsstaat mit funktionierender Judikative werden sich Lösungen finden lassen, die die Balance von Freiheit und Sicherheit gewährleisten.

Sinnvolle Beispiele für den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware sind auch die Maßnahmen zur Verhinderung von Identitätsdiebstahl bei der Erlangung von Führerscheinen, wie sie in zahlreichen US-amerikanischen Bundesstaaten bereits praktiziert werden. Oder ein von Ericsson unterstütztes Projekt mit Namen "Helping Faceless": Dabei werden Benutzer aufgefordert, Fotos von bettelnden Straßenkindern hochzuladen. Ein System zur Gesichtserkennung sucht Übereinstimmungen mit den bereits vorhandenen Einträgen in der Datenbank und gibt die Ergebnisse weiter an überprüfte NGOs.

Andere Anwendungsbeispiele wirken da schon exotischer: Der Baumaschinen-Hersteller Caterpillar etwa plant, alle Führerstände seiner riesigen Muldenkipper mit Technologie zur Gesichtserkennung auszurüsten. So soll sichergestellt werden, dass die Fahrer bei den ersten Anzeichen von Übermüdung gewarnt werden, um schwere Unfälle mit den fahrenden Ungetümen zu vermeiden. Die "Ontario Lottery and Gaming Corporation" vergleicht die Videobilder aus ihrem Casino in Ottawa mit einer Datenbank von Spielsüchtigen. Die hier erfassten Bürger haben sich freiwillig registrieren lassen und darum gebeten, gegebenenfalls aus dem Casino entfernt zu werden.

Uneingeschränkt zu begrüßen wäre es, wenn an Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) leidenden Menschen geholfen werden könnte. Bei dieser kognitiven Störung können die Betroffenen keine Gesichter erkennen, auch nicht ihr eigenes oder das naher Verwandter. Eine intelligente Brille die automatisch einblendet, mit wem man es zu tun hat, wäre für diese Menschen sicher eine enorme Erleichterung.

Diese Beispiele zeigen, wie vielfältig der Einsatz von Technologien zur Gesichtserkennung im Alltag sein kann. Sie zeigen aber auch, wie schnell man dabei an moralische und rechtliche Grenzen stößt. Oder, um noch einmal an das Zitat von Thomas de Maizière zu erinnern: Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch rechtlich erlaubt. Doch was rechtlich erlaubt ist, sollte auch technisch möglich sein. Hier kann Gesichtserkennung wertvolle Beiträge leisten. (fm)